Rocco und seine Brüder, Maxim Gorki Theater



Keine Heimat

Wie ein schwarz-weißer Stummfilm beginnt die Migrationsgeschichte der fünf Brüder und ihrer Mutter (Andreas Leupold). Wie aus der Welt und Zeit gefallen, kommen sie in moderneren Norden an. Sie haben bei ihrer Binnenwanderung aus dem armen Süden Italien nach Mailand ihre Sprache verloren. Schwarze Mäntel wehen im scharfen Wind des Nordens, die Mützen sind tief in die Stirn gezogen, die Hosen sind ein wenig zu kurz und lassen die weißen Socken sehen. Weiß geschminkt sind ihre Gesichter und weit aufgerissen ihre Münder und Augen. Groß und vielsagend sind ihre Gesten.
Über 25 Minuten lang deuten nur Übertitel und Stummfilmmusik die Handlung an. Doch dann betritt ein Farbfleck die Bühne: die schöne Nadia im kurzen Roten. Die Jungen finden ihre Sprache wieder und versuchen im Heute anzukommen. Für diese Frau scheinen sich die Integrationsbemühungen zu lohnen. Den starken, zukunftsträchtigen Simone sucht Nadia sich aus. Denn er soll eine Boxerkarriere machen. Zunächst sieht es gut aus, doch dann beginnt sein Stern zu sinken. Auch die anderen Brüder erreichen ihre Ziele nicht, die sie sich bei der Binnenwanderung gesteckt hatten. Einzig Ciro hat eine feste Arbeit gefunden, er ist ein einfacher Arbeiter bei Alfa Romeo geworden. Vincenzo versucht mühsam seine kleine Familie über die Runden zu bringen. Rocco verdingt sich als Soldat. Als er zurückkommt, tritt er in die Fußstapfen Simones. Er wird offensichtlich, dass er als Boxer erfolgreicher als sein Bruder ist. Als auch noch dessen Freundin Nadia zu dem erfolgreicheren Bruder überwechselt, eskaliert die Situation.
Nadia meinte zu Beginn: „Ach, ist das ein Familienbild?“, als sie die Fünf zusammen sitzen sah. Zum Schluss posieren sie wieder gemeinsam. Doch da ist ihre Familie längst auseinander gebrochen. Für den vermeintlichen Wohlstand in der Ferne haben sie ihre bisherigen Werte aufgegeben. Was haben sie dafür eingetauscht?
Antú Romero Nunes hat eine sehr schlichte, klare Umsetzung für den Film von Visconti gefunden. Gefühle dürfen sich diese Brüder selten erlauben. Harte, erfolgreiche Männer sollen sie sein. Erst als zum Schluss Nadia die Emotionen der Brüder hochkochen lässt, lassen sich ihre Gefühle nicht weiter deckeln.
Die Darsteller geben ihren Charakteren auch in den kurzen Szenen Tiefgang. Da ist der pflichtbewusste und opferbereite Rocco (Robert Kuchenbuch), der geltungssüchtige Simone (Michael Klammer), der harmoniebedürftige Vincenzo (Albrecht Abraham Schuch) und der ehrliche moralische Ciro (Matti Krause). Nadia (Anne Müller) erfährt erst durch Rocco eine Form der Wahrhaftigkeit, die ihr bisher nicht begegnet war. Danach empfindet sie in der Begegnung mit Simone nur noch Ekel und Hass.
Das kalte Bühnenbild entzaubert schnell den märchenhaften Anfang aus der guten alten Zeit. Die schwarze Bühne von Florian Lösche setzt auf Licht und Klänge. Der Kontrast gerät fast plakativ. Verfahrbare, bühnenbreite Neonlichterstangen zerschneiden die Bühne in Hell und Dunkel. Riesige Lautsprecherboxen schweben dazwischen auf und nieder. Eine karge Welt bietet sich den Brüdern. Keine Spur von den lieblichen Landschaften ihrer aufgegebenen Heimat.
In anderen Arbeiten ging Nunes sehr verspielt vor. Sein Ideenreichtum strotzte nur so vor Energie. Hier im Maxim Gorki Theater experimentiert er mit der gegenteiligen Haltung. Auf der Beschränkung und Konzentration liegt hier sein Fokus. Nunes macht sich dabei dankenswerterweise völlig frei von den Klischees der überbordenden Gefühlsausbrüche einer italienischen Großfamilie und insbesondere italienischer Machos. Dieser junge Regisseur beweist mit dieser Arbeit die Brandbreite seiner Talente.
Birgit Schmalmack vom 9.10.11



Zur Kritik von

Nachtkritik 
BZ 
Kulturradio 
taz 



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