Haper Regan
Harper Regan
„Eigentlich mag ich unsere kleine Familie.“ Zu dieser schlichten Einsicht kommt Harper am Ende ihrer zweitägigen Reise, auf der sie sich erstmalig erlaubte alles in ihrem Leben in Frage zu stellen. Anlass war der bevorstehende Tod ihres Vaters, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte. Obwohl ihr Chef ihr unter Androhung der Kündigung verbot zu ihm zu fahren, machte sie sich auf den Weg. Allerdings ohne ihre Familie davon Kenntnis zu setzen. Sie hätten sie zurückhalten können. Zu viel stand auf dem Spiel, wenn sie ihren Job verlor. Ihr Mann fand seit seinem Pädophilie-Prozess keine Stelle mehr, ihre Tochter stand kurz vor ihrem Studium, sie hatten Schulden abzubezahlen. Um sich mit ihrem Vater auszusprechen, kommt sie zu spät. Er ist bereits gestorben.
Harper steht vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Eine gute Gelegenheit, Dinge zu tun, die sie sich bisher nie erlaubt hatte: Sie hat Sex mit einem Fremden auf einem Hotelzimmer, sie wehrt sich blutig gegen einen Mann, der sie dummdreist anbaggert, sie klaut seine Lederjacke, sie flirtet mit einem Siebzehnjährigen. Nach zwei Tagen hat sie genug. Sie kehrt zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Scheinbar hat sich nichts verändert: Vor der Einbauküchenzeile trifft sie auf Mann und Tochter. Doch etwas ist anders geworden: Harper weiß jetzt um den Wert der Wahrheit. Sie bricht das (Ver-)Schweigen in ihrer Familie und konfrontiert ihre Familie mit der Wahrheit. Der reich gedeckte Frühstückstisch, den sie ihrer Familie am nächsten Morgen in den Garten stellt, erlaubt einen hoffnungsvollen Blick in eine mögliche Zukunft der Drei.
Simon Stephens Drama lässt der britische Regisseur Ramin Gray in kleinen wechselnden Schaukastenbühnen, die nach jeder Szene in ihre Einzelteile zerlegt und für die nächste mit neuen Outfit zusammengesetzt werden, spielen. So wird z.B. das heimische Wandstück mit der Einbauküche später durch die mütterliche Blümchentapetenwand mit Kaminattrappe ersetzt. Für den reibungslosen Ablauf sind dreimal zu viele Bühnenarbeiter nötig wie Darsteller. Durch die zeitraubenden Umbauten verliert das Drama zwar an Fahrt, erlaubt aber der heimatlos gewordenen Harper durch die Versatzstücke ihre Vergangenheit eindrucksvoll herum zu wandern. Harper war stets gewohnt zu funktionieren. Martina Gedeck spielt sie verhalten. Zurückgenommen wagt sei erst langsam ihre Wünsche an die Oberfläche kommen zu lassen. Samuel Weiss als ihr Ehemann brilliert in differenziertem ausdrucksstarkem Spiel. Auch Marleen Dieckhoff ist sehr überzeugend als Mutter, die lange unter dem eingefrorenen Verhältnis zu ihrer Tochter litt und nun ihr Recht auf ihr eigenes Leben mit ihrem neuen Mann einfordert. Marie Leuenberger zeigt zugleich die verletzlichen und rebellischen Seiten der intelligenten Tochter. An den Erfolg von Stephens Stück „Pornographie“ aus der letzten Spielzeit reicht „Harper Regan“ zwar nicht heran, aber es ist eine solide Inszenierung der Geschichte einer Frau, die ihr Leben einer gnadenlosen Inventur unterzieht.
Birgit Schmalmack vom 13.10.08
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