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Unsere Vorbilder sind Edinburgh und Avignon
Was 2006 mit einem viertägigen „Kaltstart“ auf einer Baustelle im nur halb renovierten Kulturhaus 73 begann, hat sich innerhalb von vier Jahren zu einem vierzehntägigen Festival mit ca. 150 Vorstellungen an 15 Orten in drei Stadtteilen ausgeweitet. Mitbegründer Falk Hocquel hat deswegen auch klare, ehrgeizige Zielvorstellungen vor Augen: Edinburgh und Avignon sind seine Vorbilder.
Die diesjährige Bilanz von Hocquel fällt positiv aus: Durchschnittlich seien fünfzig Zuschauer pro Veranstaltung gekommen. Das entspreche einer Auslastung von 70 Prozent. Für ein Festival mit wenig Werbung innerhalb der Stadt ein passables Ergebnis. Dieses Resümee kann Andrea Tietz von der Theaterakademie, die den Programmbereich Finale koordiniert hat, nur bestätigen. „Das Kochen im eigenen Saft hat ein Ende. Endlich sind wir kein reines Studentenfestival mehr.“ Der Aufführungsort der Zeisehallen hätte die Theaterakademie-Produktionen mitten in den Stadtteil gebracht und damit neue Zuschauergruppen erschlossen.
Dennoch sind für beide Macher die Verbesserungen für das nächste Jahr schon jetzt schnell benannt. Tietz wünscht sich klarere Strukturen im Programm. Hocquel will die stadteigene Werbung ausweiten und noch mehr Stücke zweimal aufführen lassen. Das hätte neben dem Erreichen von mehr Zuschauern den zusätzlichen Vorteil, die Künstler länger in der Stadt zu halten und damit den Austausch untereinander zu fördern. Dazu möchte er nächstes Jahr auch Foren und Gesprächrunden ins Programm integrieren.
Im Programmbereich „Finale“ lief: Wund.Es.Heim. Die Zuschauer sitzen mitten zwischen den transparenten Wänden einer Wohnung. Hier wohnt Erika, die strenge Musik-Professorin, mit ihrer Mutter. Als sich ein Student in sie verliebt, brechen ihre lange verborgen gehaltenen, sexuellen Begierden an die Oberfläche durch.
Ihre Mutter ist dabei allgegenwärtig. Nicht nur die transparenten Wände machen jede Privatsphäre unmöglich sondern auch ihre Darstellung durch sechs Frauen. Eine von ihnen zupft immer an Erika herum oder gibt ihr gute Ratschläge.
Regisseur Gernot Grünewald erzeugt die intime Teilhabe der Zuschauer an der familiären Zerrissenheit zwischen Fürsorge und Einengung, zwischen Liebe und Erdrückung durch Regieanweisungen und Außenbeschreibungen, um sie gleich darauf wieder zu brechen. Immer wieder wechseln gespielte Dialoge mit Prosatexten in der dritten Person. So erreicht er geschickt, dass sich die Beklommenheit nicht gleich von Anfang an übermächtig über die Szenerie legt. Erst nach und nach werden die gewaltsamen Ausbruchsversuche Erikas aus der Umklammerung der Familie so deutlich, dass auch die spiegelnden Vorhänge und die Filmeinspielungen keinen distanzierenden Schonraum mehr bieten können. Die drei Hauptdarsteller meistern die schwierige Aufgabe mit Bravour. So beeindruckte dieses Regieprojekt durch eine alle Sinne ansprechende, intensive Analyse der Entstehung sexueller Neurosen im trauten Schoße der Familie.
Mit viel weniger Einsatz kam die Liebesgeschichte des Wiener Max Reinhardt Seminars im Programmbereich „Kaltstart Pro“ aus. Die Story von Franzobel böte Stoff genug für eine knallige Inszenierung, die sich um die Untertöne wenig sorgen müsste: Ein Mann läuft Amok; nachdem sich seine Frau Marie mit den zwei Kindern aus dem Fenster gestürzt hat, erschießt er den neuen Freund seiner Geliebten Dunja. Danach versetzt er die Straßen Wiens in Aufruhr. Unter der Regie von Sarantos Zervoulakos wird daraus ein wunderschönes, pralles Theaterstück. Die drei Darsteller bewegen sich während der ganzen Aufführungszeit jedoch kein Stück von ihrem Platz auf dem Matratzenlager fort. Doch während sie dort wie angewurzelt sitzen, entführen sie die Zuschauer in immer neue Welten. Mit wenigen Requisiten werden sie zu neuen Figuren, denen der Mann auf seine Suche nach Liebe begegnet. Mit der Handtasche ist Sophia Freynhofer die liebende Marie, mit den roten Schuhe die laszive Dunja, mit der Brille die gestrenge Frau Polizistin. Markus Westphal ist in Uniform der Kommissar, in Unterhemd der Taxifahrer mit russischem Akzent und mit Zopf und Amulett der brutale Macho-Liebhaber. Christoph Schechinger brilliert in der Rolle des Mannes, der glaubte sein Leben fest im Griff zu haben und nun alles verliert.
Die freie Szene im Bereich „Fringe“ überzeugte mit einer Aufführung im Monsuntheater. Ian McEwans Roman Der Zementgarten auf die Bühne zu bringen, ist eine große Herausforderung. Das Ensemble Lavie hat sie unter der Regie von Réne Rothe auf besonders einfühlsame Art gemeistert. Im Gegensatz zur Verfilmung von Andrew Birkin steht hier nicht der Inzest im Mittelpunkt des Interesses sondern die Analyse des gesamten familiären Beziehungsgeflechts. Sensibel werden die verschiedenen Rollen der einzelnen Geschwister beleuchtet. Wie die Älteste nach dem Tod der beiden Eltern den Part der Versorgerin übernimmt, wie der zweitälteste Jack heftig mit seinen Pubertätsaufwallungen zu kämpfen hat, wie der Jüngste sich gerne in die Rolle des Babys flüchtet und wie die Zweitjüngste sich mit ihrem Tagebuch in den Keller zurückzieht, alles zeigen die jungen Ensemblemitglieder. Zum Schluss liegen sie alle gemeinsam nackt und eng umschlungen auf dem Zementblock in der Mitte der Bühne: eine zusammengewachsene Gemeinschaft, die aus der Außensicht zwar merkwürdig und gestört wirken mag, aber aus der Innensicht eine ganz natürliche Entwicklung nahm.
Beim Gastspiel der meetfactory im Bereich „Prag spezial“ mit Dea Lohers Land ohne Worte wandert die Künstlerin rastlos in ihrem verwahrlosten Atelier umher. Immer wieder reißt sie Müllsäcke auf, schiebt das Bett an eine andere Stelle, probiert eine neue Haltung zu dem Erlebten aus. “The whole environment becomes isolated.“ Dieser Satz eines Maler-Kollegen scheint jetzt auf einmal zu passen. Nachdem die Malerin in K. (Kabul) war, haben sich alle bisherigen Möglichkeiten der künstlerischen Darstellung aufgelöst. Keine scheint mehr die passende zu sein für das Gesehene. Unter der Regie des Berliner Kai Ohrem spielt die Prager Schauspielerin Ivana Uhlirová mit einer solchen Intensität, dass schon alleine ihre Intonation und ihr Körper sprechen. Mit den deutschen Übertiteln erschließt sich dann auch der Inhalt. Es ist ein Erlebnis, dieser eindrucksvollen Schauspieler-Persönlichkeit bei ihrer Suche nach Ausdrucksformen für das Leiden der Menschen im Krieg zu begleiten.
Für den Zuschauer bietet dieses Festival eine wunderbare Möglichkeit einen Turbo-Theater-Input in Sachen derzeitiger junger Theaterszene im deutschsprachigen Raum zu bekommen. Die tolle Sommer-Großstadtatmosphäre gibt es gratis dazu. Der Unplugged-Touch, auf den die Organisatoren großen Wert legen, versieht das Ganze mit dem nötigen Trash-Faktor, der das Gefühl verstärkt, Teil einer Szene im Aufbruch zu sein. Das Kaltstart-Festival ist ein absoluter Zugewinn für Hamburg, das auf bescheidene und unaufgeregte Art für viele genauso viel bieten kann wie manch viel beworbenes und reich subventioniertes Festival in der Stadt.
Birgit Schmalmack
hamburgtheater - Kritiken für Hamburg seit 2000