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Tagesspiegel 

Die Gerechten, Maxim Gorki Theater

In utopiefreien Zeiten

Jette Steckel inszenierte "Die Gerechten" von Camus einst als eine rein psychologische, politische und ideologische Diskussion zwischen den Parteimitgliedern um den rechten Weg. Die Fragen waren: Was ist im Rahmen einer politischen Umsturzaktion erlaubt? Welche Mittel sind für eine gesellschaftliche im Kampf gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit moralisch legitim? Darf man töten? Dürfen Unschuldige sterben? Das war vor elf Jahren. Mittlerweile sind scheinbar alle Gegenentwürfe zum Kapitalismus ad acta gelegt. Gesellschaftliche Utopien sucht man vergeblich. Wenn heutzutage Terrorakte geplant und ausgeführt werden, geschehen sie häufig im Namen der Religion. So wählt Sebastian Baumgarten am Maxim Gorki Theater einen völlig anderen Ansatz. Aus dem Diskursstück macht er einen bunten Bilder- und Assoziationsreigen, der sich um die vermeintlich dröge wirkende Story rankt.
Es beginnt mit einem ohrenbetäubenden Knall. Eine verlassene Straße irgendwo im Nahen Osten, die auf der Videoleinwand zu sehen war, fliegt in die Luft. Unter der Projektionsfläche kriechen fünf Gestalten (Aram Tafreshian, Jonas Dassler, Mazen Aljubbeh, Till Wonka und Lea Draeger) in langen Mänteln und Pelzmützen hervor- sie zitieren die Offenbarung des Johannes, die Schilderung der Apokalypse mit dem anschließenden Gottesgericht. Damit ist der Kontext klar, in den Sebastian Baumgarten seine Inszenierung von Camus "Die Gerechten" stellt: Er sieht das Stück unter einem religiöses Vorzeichen.
Camus nahm sich für sein Stück das tatsächliche Attentat einer sozialrevolutionären Aktivistengruppe auf den russischen Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren von 1905 zum Vorbild. Der erste Versuch misslingt, da der Attentäter im letzten Moment zurückschreckt, weil sich mit dem Opfer auch seine Frau und zwei Kinder im Auto befinden. Erst der zweite Versuch gelingt und der Attentäter wird inhaftiert. Dort werden ihm von unterschiedlichen Seiten Angebote gemacht - mal soll er sich kaufen lassen, mal seine Schuld vor Gott bereuen, mal sich im Knastalltag Vergünstigungen erarbeiten. Er schlägt alle aus.
Baumgarten bietet zwischen den Szenen des Stückes eine breite Textauswahl an, die heutige Positionen nebeneinander stellen und zum Weiterdenken anregen sollen. Dazu entledigen sich die Revolutionäre sich ihren Lederjacken und stehen in Science-Fiction-Ganzkörperanzügen a la "1984" vor den Zuschauern an der Rampe. Sie bieten eine Vielzahl von Sichtweisen an. Kapitalismuskritik von Slavoj Zizek gehört ebenso dazu wie philosophische Überlegungen von Walter Benjamin.
Baumgarten will das Stück von Camus unbedingt aus der ideologische Ecke herausholen. Das versucht er mit allen Theatermitteln. Filmeinspielungen, Comicstrips, Verkleidungen, Übertreibungen, Klamauk, Überspitzungen bei ständigem Zeitenwechsel. Langweilig soll es dem Zuschauer auf keinen Fall werden. Er soll viel geboten bekommen. So bleibt er am Ende angefüllt und ein wenig verwirrt zurück. Welchen Reim soll er sich auf dieser überbordenden Vielfalt machen, welche Quintessenz aus dieser Flut an Eindrucken generieren? Da interessiert im Nachherein der konsequent reduzierte und anregende Diskursansatz einer jungen Jette Steckel noch einmal mehr. Spannend wäre es zu sehen, ob er auch noch heute funktionieren würde oder ob Baumgarten mit seiner Neuinterpretation über zehn Jahre später den Zeitgeist einer utopiefreien Gesellschaft, die vor lauter Diskussionen zu keiner Aktion mehr in der Lage ist, doch besser trifft.
Birgit Schmalmack vom 8.10.18