Die Wahrheiten, Kammerspiele

Die Wahrheiten, Kammerspiele
Foto: Lohola
Jeder hat seine eigene Wahrheit
Die eine Wahrheit gibt es nicht, das ist mittlerweile eine Binsenweisheit, doch wie sie das Leben von Menschen auch im Privaten durcheinander rüttelt, das zeigt das Stück „Die Wahrheiten“ in den Hamburger Kammerspielen.
Nach einem entspannten Kinoabend kehrt das Ehepaar in seine Wohnung zurück und hat plötzlich eine SMS auf Brunos Handy: „Wir haben beschlossen, den Kontakt zu euch abzubrechen. Wir wollen das nicht mit euch diskutieren.“
Sie stammt von ihrem langjährigen Freundespaar Erik und Jana. Bei der Suche nach den möglichen Gründen werden auch Geheimnisse zwischen den Ehepartnern nach oben gespült. Jeder der beiden kramt in seine Erinnerung herum, ob einer von ihnen, die auch jeweils mit den Freunden einzeln befreundet sind, etwas zum Bruch beigetragen haben könnte. Während Bruno herumpoltert, sich in seine Wut, seine Rachegelüste hineinsteigert, versucht seine Frau die Kontrolle über ihre Gefühle zu behalten und ihren Mann zu beschwichtigen. Man merkt Bruno bei seinen emotionalen Eruptionen seine tiefe Verletzung an, während Sonja sich zwingt möglichst rational nach den Gründen zu forschen.
In der zweiten Hälfte lernt man die andere Seite der Trennungsgeschichte kennen. Der gleiche rosafarbene Salon mit den Polsterelementen wird nun zur Wohnung von Jana und Erik. Erik kommt gerade gut gelaunt von einem Treffen mit Freunden zurück, doch Jana sitzt mit verschränkten Armen in gedrückter Stimmung auf den Treppenstufen. Sie befindet sich in einer Therapie, in der viele Erfahrungen aus der Vergangenheit wieder an die Oberfläche kommen. Unter anderem eine mit Bruno. Er hatte ihr einen Job als Coacherin in seiner Finanzfirma besorgt, bei dem sie nicht wunschgemäß performt hatte. Die chauvinistischen Sprüche der durchgehend mittelalten Businessmänner konnte sie nicht adäquat kontern und brach das Seminar ab. Nun ist ihr klargeworden: Das war Machtmissbrauch. Bruno hat sich ihr gegenüber wie ein Macho-Arsch verhalten und sie will erst einmal keinen Kontakt mehr zu ihm. Als Erik genauer nachfragt, nennt sie anzügliche Bemerkungen und schildert einen Klaps auf den Po. Erik kann sich kaum das Grinsen verkneifen. Das soll Missbrauch sein? Doch er sieht sich als Beschützer seiner Frau und greift flugs zum Handy, tippt die SMS und schickt sie ab. Das gibt Jana den Rest, schon wieder jemand, der über ihren Kopf hinweg agiert und sie nicht ernst nimmt. So kommt im weiteren Verlauf des Abends noch viel Grundsätzliches zur Sprache.
Wie weit kann man dem anderen vertrauen? Kennt man je seinen Partner wirklich? Alle reden viel, doch hören sie einander auch zu? Das wird besonders deutlich in der letzten Szene, in der alle vier auf der Bühne sind, aber nur jeweils mit einem der Anwesenden sprechen. Denn auch Bruno und Sonja hatten ein Geheimnis: Bruno ist nicht der leibliche Vater ihres ersten Sohnes, doch er hat es als sein eigenes akzeptiert, unter der Bedingung, dass seine tatsächliche Herkunft ihr Geheimnis bleibt. Doch nun kommt es heraus: Sonja hat Jana in einem intimen Zweigespräch davon erzählt, nun befürchtet Bruno, dass auch Erik davon erfahren hat. Was sich später als richtig herausstellt. Während die Beziehung von Bruno und Sonja auch diesen Vertrauenseinbruch überstehen wird, wird Jana die Konsequenzen ziehen, sie wird Erik verlassen.
Lutz Hübner und Sarah Niemetz haben (wieder einmal) ein Well-made-play hingelegt. Sehr gut beobachtet, die Dialoge sehr genau dem Leben abgeschaut. Ebenso geschickt werden die heutigen Diskurse um Missbrauch und Rollenklischees aufgegriffen und ohne vorherige Festlegung an einer tatsächlichen Situation durchkonjugiert. Regisseurin Milena Mönch hat den Text mit ihrem einsatzfreudigen Ensemble ( Ulrich Bähnk, Tobias Dürr, Naima Laube und Katja Weitzenböck) mit viel psychologischem Feingespür auf die Bühne gebracht. Man hat mit jeder der Figuren Mitleid und kann Verständnis für ihre Wahrheit entwickeln. Im Publikum gibt es demzufolge den ein oder anderen Wiedererkennungseffekt. Das sorgt für wenige Lacher, für viele Aha-Effekte und für einigen Stoff zum Nachgrübeln.
Birgit Schmalmack vom 26.2.25
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