hamburgtheater

..... Kritiken für Hamburg seit 2000

Die Wanze, Thalia

Die Wanze, Lessingtage

Foto: LIU Dali

Ein Bühnenfeuerwerk


Unter einem riesengroßen Leninkopfumriss sitzen die jungen Menschen mit ihren weiß geschminkten Gesichtern minutenlang regungslos, bevor sie anfangen sich wild zu kratzen. Da der Titel des Stückes "Die Wanze" lautet, ahnt man warum. Doch diese Titel gebende Kreatur wird erst kurz vor Ende wieder eine Rolle spielen. Zunächst taucht einmal Bratfisch auf. Ein cooler junger Mann in roten Unterhosen mit Kopfhörern auf den Ohren. Er hat sich vorgenommen, seine Karriere zu pushen. Dafür hat er sich von seinem Arbeiterdasein losgesagt und damit seine Verlobte sitzengelassen, die sich daraufhin das Leben nimmt. Doch Bratfisch kümmert das da noch nicht, denn er hat sich eine vielversprechendere Partie ausgesucht: Er will eine Bürgerliche heiraten. Sein Kampf für die neue Gesellschaft soll sich auch für ihn auszahlen. Er träumt von einem eigenen Masseur in einem der kapitalistischen Badehäuser. Er will nicht mehr zusammen mit der sozialistischen Arbeiterschaft schwitzen. Doch es kommt anders: Bei seiner Hochzeit, die zu einem großen Gelage wird, bricht ein Feuer aus. Alle bis auf Bratfisch verbrennen, er wird durch das Löschwasser im Keller eingefroren.
Nachdem Regisseur Meng Jinghui diesen ersten Teil von Majakowskis Drama in seiner expressiven Theatersprache, die sich beim Tanz, Sprech-, Bewegungs- und Musiktheater bedient, mit seinem jungen und durchtrainierten Ensemble erzählt hat, dreht sich die Bühne einmal um 180 Grad. Auf der Rückseite scheint man jetzt in einen Kopf zu blicken. Es sind nur noch die Umrisse eines Schädels zu erkennen, im Hintergrund erahnt man eine Wirbelsäule und vorne schwebt ein Auge von der Decke. Wir sind 50 Jahre später im Labor der Weltföderation, also 1979. Man beschließt den eingefrorenen Körper aufzutauen. Und tatsächlich Zuckungen gehen durch Bratfischs Körper und er zeigt Lebensfunktionen. Doch bei ihm findet sich auch eine Wanze, die ebenfalls eingefroren nun wieder zum Leben erwacht. Die passt in diese cleane Welt nun gar nicht. So werden die beiden Schädlinge, der eine für den Menschen, der andere für die Umwelt, zusammen in einen Käfig gesperrt und im Zoo ausgestellt.
In diesem Zustand scheint sich Bratfisch wieder an seine einstige Verlobte Soja zu erinnern. Er imaginiert sich als ihr ergebenes Hündchen, das sehnsüchtig auf ein Zeichen der Zuneigung von ihr wartet. Fast eine Viertelstunde umrast Bratfisch während seiner Liebesbeteuerungen dabei eine Tafel, auf die er zuvor mit Kreide ein kleines Comichündchen gezeichnet hat. Doch Meng mischt in diesen zweiten Teil neben wohlklingenden Popsongs zu einladenden Choreographien des ganzen Ensembles auch so eine absurde Situation wie die Begegnung Bratfischs mit zwei servilen Bediensteten, die ihm immer wieder neue Serviceangebote machen. Geht es zunächst um einen Platz zum Ausruhen, so bieten sie ihm bald die Abnahme von Körperteilen an, die ihm Schmerzen bereiten. Zum Schluss steht er bein-, arm- und kopflos da.
Meng Jinghuis Theater ist ein eruptives Ereignis. Er spart an keinerlei Mitteln. Die Reduktion gehört eher nicht dazu. Die Texte müssen knallen. Häufig ist die Lautstärke hoch, manchmal werden die Texte im Chor mehr im Stakkato geschrieen als gesprochen. Die Schauspieler sind dauernd in Bewegung, Kommunikation zwischen ihnen spielt kaum eine Rolle. Es gibt proklamatische Szenen, in denen von der Gleichberechtigung der Frau, von den neuen Möglichkeiten des technischen Fortschritts und einer besseren Zukunft gesprochen wird. Demgegenüber agieren die Menschen unter den jeweiligen Köpfen aufgeschreckt, gehetzt und planlos. Sie haben scheinbar jede Orientierung verloren oder sind mittlerweile so desillusioniert, dass sie jeder neuen Idee willig hinterher rennen. Das wirkt vordergründig aufgeklärt und kritisch und dennoch andererseits willenlos, wendehalsmäßig und hörig.
So nutzt Meng Jinghui den Text von Majakowski von 1927 geschickt als Folie für alles, was man durch ihn betrachten möchte. Die einen können in ihm eine Kritik an der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft, an der Bürokratie, die anderen an der Technikverliebheit und an der Manipulierbarkeit der heutigen Welt sehen, ganz entsprechend der eigenen Haltungen.
So enttäuschte das Gastspiel des chinesischen Theaters bei den Lessingtagen zwar nicht aufgrund mangelnder möglicher politischer Aussagen, aber dieses Feuerwerk an Effekten und Energieüberschuss forderte über die pausenlose Dauer von fast zweieinhalb Stunden volle Aufmerksamkeit, Flexibilität und Anstrengungsbereitschaft. Man bekam in jeder Hinsicht eher zuviel als zuwenig geboten.
Birgit Schmalmack vom 2.2.25

hamburgtheater - Kritiken für Hamburg seit 2000