Untertagesblues
Untertagesblues
Wegelagerer der Gesellschaft
Ein dürres Bäumchen mit wenigen grünen Blättern trägt der „Wilde Mann“ (Markwart Müller-Elmenau) mit sich herum. Doch so wirkungslos seine Reden gegen die Übermacht der hässlichen Menschen in dem U-Bahnschacht verhallen, so wenig ist dies der passende Ort um einen Baum zu pflanzen. So schreit er seine Schmähreden gegen die Wegelagerer der Gesellschaft, gegen die Perspektivverdränger, gegen die Blindgänger und die Scheinseher dem Publikum und einem zufällig Wartenden (Sandra Flubacher) entgegen, der auf den roten Schalensitzen hockt. Dieser wird so unfreiwillig zum Anschauungsobjekt für die Hasstiraden des alten Mannes. So dick und unförmig, wie er mit seinem rotgelockten, ungepflegten Bart, Gummilatschen, Sonnenbrille und Baseballkappe dasitzt, scheint er die Vorwürfe des Schmähredners zu bestätigen.
Dieser hetzt gegen alles und jeden: Diejenigen, die in der Öffentlichkeit lesen, seien nur Scheinleser. Diejenigen, die als glücklich lächelndes Paar herumliefen, würden sich zwar kurzfristig dem Rest der Welt überlegen fühlen, bevor sie sich bitter enttäuscht in die Reihen der anderen Illusionslosen einfügten Diejenigen, die mit Preisen für nichtswürdige Leistungen überschüttet werden, würden eigentlich nur für ihr Vitamin B und ihre Arroganz ausgezeichnet. Frauen, die mit Parfümwolken und Stöckelschuhknallen auf sich aufmerksam machten, kaschierten nur ihre tiefgreifende Einsamkeit. Diejenigen, die mit der Bahn zum nächsten Seniorenwandergruppentreffen in grellbunter Plastikfreizeitkleidung fahren, würden sicher mit ihren Neonstreifentrainingshosen auch noch ins Grab fallen.
Der dicke Wartende hört sich derweil mit stoischer Gelassenheit den Monolog des Alten an. Erst als sein Anblick ausdrücklich nicht mehr erwünscht ist, macht er sich mit seinem Trolleyset von dannen. Ohne einen Zuhörer verliert der Redner seine Energie. Er hockt sich vor den überquellenden Mülleimer mitten unter die Verpackungsreste. Da kehrt der Dicke als schlanke Frau in schwarzem Spitzenunterhemd zurück. Nur die weite Männerhose erinnert noch an seine frühere Gestalt. Lächelnd wie ein Clown wäscht sie dem Wilden nun den Kopf. Wer nur die Schönheit suche, verhässliche sich selber den Blick auf die Welt. So trübe und lieblos, wie er auf die Menschen schaue, verwandele sich sein Inneres.
In der Inszenierung von Alize Zandwijk kommt bei all dem Hass, Zorn, Wut und Neid dieses Misanthropen der Humor nicht zu kurz. Durch die direkte Ansprache des Publikums und die Bebilderung des Gesagten durch den unschuldig blickenden Dicken auf der Bühne gelingen ihr heitere Momente, die der Text nur schwer vermuten lässt. Die Entpuppung des Dicken am Schluss zu einer schönen Frau und ihre liebevolle Richtigstellung dürfte den Zuschauern aus dem Herzen gesprochen haben. Für beide Darsteller gab es lang anhaltenden Applaus.
Birgit Schmalmack vom 22.10.08
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