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Nathan der Weise-Stemann1

Nathan der Weise
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Hörstück kontra Bilderflut
Ein Lehrstück, in dem keine Menschen vorkommen, ist für Nicolas Stemann „Nathan der Weise“. So hat er ganz konsequent Lessings Text weitgehend als Hörstück vom Blatt ablesen lassen. Einzig ein großes Mikrophon ist zu Beginn seiner Inszenierung im Thalia Theater zu sehen. Die Schauspieler bleiben zunächst hinter einem Vorhang am Bühnenrand verborgen. Bis dieser gelüftet wird, ist der erste Akt mit verteilten Rollen vorgetragen. Vom Blatt abgelesen kommt der Text in all seiner sprachlichen und gedanklichen Schönheit voll zu Geltung. Nichts lenkt ab. Selbst die aufgrund der Musikinstrumente zu erwartende musikalischen Begleitung bleibt zunächst aus. Nur Kerzen dürfen die Musiker anzünden.
Die Schauspieler wagen sich mit Partitur und Mikrophon im Verlaufe des Stückes immer näher an die Zuschauerreihen heran. Doch immer bleibt der Text in Sicht- und Greifweite.
Dann wird eine riesige Papierbahn von der Bühnendecke über die gesamte Bühne gezogen. Auf ihr bricht nun eine Bilderflut und Gefühlsflut über die Zuschauer herein, die Elfirede Jelinek in ihrem Kommentar „Abraumhalde“ zu „Nathan der Weise“ gibt. Das pralle Leben bricht sich seine Bahn. Dieselben Schauspieler, die bisher in dunklen Anzügen Lessing rezitierten, inszenieren sich nun in immer neuen Posen und Verkleidungen vor der Webcam, die jede Menge bekannter Klischeebilder auf die Papierbahn wirft. Sie berauschen sich an einem Gefühlsausbruch, den Lessing seinem Publikum bewusst vorenthielt. Hier kommt der Hass, die Intoleranz, der Wahnsinn, die Rachegelüste, die Vorurteile, die Missgunst zum Vorschein, der bei Lessing durch die Vernunft im Zaum gehalten werden sollte. Hier setzen sich Terroristen in Szene, hier flehen verschleierte Frauen um Gnade, hier trauern Frauen um die Toten, hier drohen Männer mit Turban und Maschinengewehr. Wo zuvor die aufklärerische Vernunft das Leitmotiv war, sind es nun die untergründigen Triebe und Gelüste der Menschen. So schnell der Emotionsrausch hereinbrach, so schnell ist er wieder vorbei.
Das Mikrophon schwebt wieder von der Decke herab und Lessing erklingt. Der letzte, alle versöhnende Akt wird gelesen. Schließlich sinkt die Papierbahn zu Boden und nach und nach steigen die Schauspieler über die Rolle auf die weiße Fläche. „Unter allseitiger Umarmung fällt der Vorhang“ ist als letztes auf der Bühnenrückwand zu lesen.

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