Marat
Marat/Sade
Massen steht auf!
Leben in der Hartz-IV-Gummizelle
Hamburg ist eine Stadt der Gegensätze. In keiner anderen Stadt Deutschland steht sich der Kontrast zwischen Arm und Reich so krass gegenüber. Hier leben die meisten Millionäre und hier gibt es prozentual die höchste Quote an Hartz-IV-Empfängern. Ist also eine Revolution wieder fällig? Der Aufstand von unten gefragt? „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“, fragen die 25 Hartz-IV-Empfänger auf der Bühne des Schauspielhauses. Sie überprüfen die Theorien des Ideologen aus der Zeit der französischen Revolution mit ihren eigenen Methoden. So wird nach Vorlage des Stückes von Peter Weiss „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielertruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ eine Versuchsanordnung für Hamburger Verhältnis möglich.
Dem Drama stellen die Laiendarsteller in einem Prolog ihre eigenen Erfahrungen voran. Sie schildern, durch welche Umstände sie in ihre Lage kamen. Sie empören sich über die mangelnden Möglichkeiten ihren Teufelskreis zu durchbrechen. Sie berichten, wie sie sich aus der Gesellschaft gedrängt fühlen. Sie rechnen vor, wie viel Geld ihnen pro Tag zu Verfügung steht.
Erst nachdem diese Parameter für die heutige Prüfung geklärt sind, treten Marat und der Marquis de Sade auf in ihren Theorienwettstreit. De Sade ist desillusioniert und glaubt an keinen Aufstand der Massen mehr. Er würde ohnehin nur immer wieder zur Neuerstarkung der Herrschenden führen, die das Volk weiter unterdrückten. Marat dagegen wird nicht müde für die Veränderung und die Neugestaltung der Gesellschaft zu plädieren. In immer neuer Gestalt tritt er auf. Mal schwebt er als stählerner Lenin vom Bühnenhimmel herab, mal übt er sich als langmähniger Ringelpulloverträger mit Hair-Songs in Solidarität, mal tanzt er als Fidel mit Sade zu kubanischen Rhythmen und schließlich schwingt er als dickbäuchiger Lafontaine große Reden.
Die Ausgegrenzten befinden sich derweil in einer Gummizelle mit Lidl/Aldi-Logo. Gefangen in den engen Grenzen einer Marktwirtschaft, die ihnen und ihrem Lebenserhalt seine Preise aufdiktiert. Ein persönlicher Trainer in von Mercedes Benz gesponserter Kleidung steht ihnen zur Verfügung und treibt sie zu frischen Taten zeitgemäß mit Entspannungsübungen, Boxtraining und Traumreisen an.
Wie bei Weiss endet auch bei Löscher der Abend mit der Ermordung des revolutionären Führers und mit einem eigenständigen Ausstand des Volkes. So fällt La Fontaine als letzter der Revolutionär-Reihe in der Badewanne einem Attentat zum Opfer. Eine makabere Fortschreibung der Realität, da er am 25.April 1990 tatsächlich Verletzungen bei einem Attentat zugefügt bekam. Zum Schluss stehen die 25 Armen blutüberstömt an der Rampe, verlesen eine Liste der 20 reichsten Hamburger mit Angabe ihres Namens und Vermögens –außer vieren, die sich per anwaltlicher Verfügung dagegen gewehrt haben und kommen zur der Überzeugung, die Zeit sei reif für ein Aufbegehren, das Konsequenzen unmissverständlich einfordert.
Löscher scheut vor keinen provokanten Überspitzungen in seinem Agitpoptheater zurück. Doch angesichts der Bankenkrise hat die Realität sein Konzept fast eingeholt.
Birgit Schmalmack vom 31.10.08
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