Getanzte Emotionen

Navy Blue, Kampnagel Foto: Sinje Hasheider


Geschlossen stehen sie da, in einer Reihe, 12 Menschen in blauen Arbeiteranzügen. Sie schreiten zusammen nach vorne, sie tanzen zusammen, sie recken zusammen ihre Arme kämpferisch in die Höhe. Und doch merkt man ihnen von der ersten Sekunde eine Unsicherheit an. So gleichförmig sie gekleidet sind, ihre Bewegungen geraten immer wieder kurzfristig aus der Einheit heraus. Das fällt besonders auf, weil es Ballettschwünge und -drehungen sind, die sie dafür benutzen. Doch einmal passt die Armstellung nicht dazu, einmal gerät eine Drehung aus der Balance und einmal ist die Position ein wenig verrutscht. Die klare Form, die eigentlich mit ihren Regelwerk eine sichere Basis geben soll, hat Brüche bekommen. Die wuchtigen Klänge von Rachmaninows Klavierkonzert, zu denen sich all dieses abspielt, unterstreichen diese Dramatik noch.
So mischt sich Vertrautes mit Irritierendem und die irische Choreographin Oona Doherty zieht mit ihrem neuen Werk "Navy Blue" vom ersten Moment die Zuschauer:innen in ihren Bann. Doherty versteht es hervorragend, die Körper erzählen zu lassen. Es geht ihr weniger um exakte Bewegungsabfolgen sondern um die Expressivität des Tanzes. Hier sind weder Bewegungsstudien zu sehen, noch wird ein Konzept verfolgt, nein, hier werden Emotionen pur auf die Bühne gebracht.
Dazu hat sie ein beeindruckendes Ensemble gecastet, das diese Emotionen auch durch ihr Minenschauspiel direkt ablesbar macht. Diese Gefühlskaskaden übertragen sich sofort unmittelbar auf die Zuschauer:innen. Sie können sich dem Geschehen auf der Bühne nicht entziehen. Auch im zweiten Teil, in dem die Musik von der Klassik zur Elektronik, von Rachmaninow zu Jamie xx wechselt, ändert sich dieses nicht, obwohl erst einmal völlige Bewegungslosigkeit der Tänzer:innen auf der Bühne herrscht. Einer nach dem anderen wurde in der Szene zuvor mit einem lauten Knall niedergestreckt und blieb auf dem Boden liegen. Wie Blutlachen breitet sich danach um ihre Körper blaues Licht aus. Als alle zu Boden gefallen sind, bedeckt bald zwischen ihnen ein riesig großer See an Blut, Trauer und Hoffnungslosigkeit die Bühne. Nach einer gefühlten Ewigkeit stehen sie wieder auf und bilden wie zu Beginn eine geschlossene Reihe, diesmal direkt vor den Zuschauer:innen. Es erklingt eine Stimme. Es ist die von Doherty, die im dritten Teil für den Blues dieser Welt in einem langen Gedicht Worte zu finden versucht. Angesichts der vielen Krisen, Katastrophen und Kriege reißt sich das Ensemble die Jacken vom Körper und springt wie von Sinnen durch die Gegend. Doch gerade als die Depression und Hoffnungslosigkeit alles zu vernichten droht, besinnen sich die Tänzer:innen wieder darauf, was ihnen Kraft geben könnte: Gemeinschaft. Zum Schluss stehen sie in einem engen Kreis eng umschlungen da. Und dann brandet der jubelnde Applaus für diese beeindruckende Arbeit von Doherty in der K6 auf.
Birgit Schmalmack vom 17.8.22

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