Die Lücke, Thalia

Die Lücke, Kölner Schauspielhaus

Die Lücke bleibt

Da sitzen sie in ihren zwei gut getrennten Welten und schauen sich an. Abschätzend, befangen und doch neugierig. Auf der einen Seite die drei schicken Deutschen in Anzug mit Schlips oder engen Hosen zu Highheels, auf der anderen Seite in legerer Freizeitkleidung mit Goldkettchen, Dreitagebart oder Kopftuch. Um die Bestätigung und die Brechung von Vorurteilen oder Klischees wird es in den nächsten zwei Stunden noch öfter gehen. Denn auf der linken Seite sitzen drei deutsche Schauspielprofis des Kölner Schauspielhauses und auf der anderen drei der Anwohner der Kölner Keupstraße, die einander begegnen sollen. Doch zwischen ihnen befindet eine Lücke, und zwar nicht nur zwischen den beiden weißen fahrbaren Räumen, in denen sie Platz genommen haben, sondern auch in ihren Köpfen. Um diese Lücke, die sich zu einem Riss entwickeln könnte, geht es. Um die Lücke in den Vorstellungen, in der Gesellschaft und in jedem von uns.
Dieser Lücke wollte Nuran Calis mit seinem Projekt zu dem Bombenattentat des NSU in der Kölner Keupstraße, das sich im Juni zum zehnten Mal jährt, nachspüren. Er befragte Anwohner, Stadtvertreter, Gerichtsakten und Kölner Bürger. Stellvertretend für die Deutschen stehen die drei Schauspieler Thomas Müller, Simon Kirsch und Annika Schilling auf der Bühne. Sie wagen den Sprung über die Lücke zwischen den beiden Räumen und bedrängen die drei Anwohner zunächst mit ihren Fragen. Darf man als Mann der Frau Ayfer Sentürk Demir die Hand geben? Darf man nach dem Kopftuch fragen? Darf Annika die Männer anfassen? Wie wird sie als Frau angesehen, wenn sie sich in das fremde Terrain der Keupstraße vorwagt? So erfahren sie von den Keupgesetzen, die nur für die türkische Community gelten. So dürfe eine deutsche Frau sehr wohl in ein Teehaus gehen, aber auf keinen Fall eine türkische Frau. Auch vom Gesetz des „Leben und Lebens Lassens“ erfahren sie. Die Deutschen sollen eben ihr Ding machen und die Türken ihrs. Das will Annika aber nicht ganz überzeugen. Sie mag nicht von ihrer Wunschvorstellung des Zwangs zur Freiheit lassen.
Achtzehn Kapitel hat der Abend. Die ersten von ihnen befassen sich mit dem Alltag auf der Keupstraße, mit seinen Bewohnern, ihren Vorstellungen und mit den Fragen der Deutschen. Ab der Hälfte etwa nähert sich das Team allmählich der Thematik des Nagelbombenattentats. Nun sind die Türken dran, ihre Fragen zu stellen. Ihre Enttäuschung über den Verlauf der Ermittlungen ist unüberhörbar. Plötzlich standen alle von ihnen unter Generalverdacht. Hinweise auf Nazis vonseiten der Betroffenen wurden von der Polizei nicht nur ignoriert sondern sogar unterdrückt. Ismet Büyük versagen seine Deutschkenntnisse. Auf Türkisch verschafft er seiner Wut lautstark Luft. Der Musiker Kutlu Yurtseven muss übersetzen. Die Polizei ermittelte ausschließlich im Milieu. Stellvertretend für die anderen fragt sich Thomas laut, woher die Türken denn auch das Geld für die teuren Autos auf der Keupstraße hätten? Mit dem schleppenden Verkauf in den kleinen Kiosken und Dönerbuden wohl kaum, oder? Als der wortgewandte Kutlu dann aber das System der Verdächtigungen und Zuschreibung des Geflechts mit zahlreichen Beispielen schildert, wird die Ungerechtigkeit in dem vermeintlichen Rechtsstaat Deutschland, den die Deutschen so gern hochhalten würden, für alle unübersehbar.
Die Ausbreitung der weiteren Fakten - Vernichtungen von Beweismaterial, systematische Vertuschungen, Blindheit auf dem rechten Auge, Umdeutungen von Pressemitteilungen - all das wirft ein tiefschwarze Schatten den Glauben an eine objektive Rechtsanwendung, eine klare Trennung von Judikative und Exekutive und die Gleichheit vor dem Gesetz, der die Beklommenheit nur noch steigert. Zum Schluss steht zwischen den beiden weißen Räumen, die zu Häusern gedreht worden sind, ein Fahrrad. Das Rad, in dem Mundlos und Böhnhardt die Nagelbombe deponiert hatten. Niemand wird diesen Abend ungerührt ad acta legen könne, wie mancher es mit den Prozessakten so gerne getan hätten. Standing Ovations beim Gastspiel in Altona.
Birgit Schmalmack vom 29.1.15



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