Leben ohne Netz „Ich will das nícht mehr, ich will leben!“ Der Mann, der sich mit einem schiefen Grinsen auf den Sessel gefläzt hat, will sein Leben ändern. Fünfzehn Jahre hat Jaques Brel mit seinen Liedern auf der Bühne gestanden und sich dem Terror des ständigen Kreativitätsoutputs und der immerwährenden Selbstdarstellung unterzogen. Doch ab jetzt will er nur noch dem Moment fröhnen und seine Lebenszeit mit allen Sinnen auskosten. Er wollte nie ein Bourgeois werden und fand sich dennoch eingezwängt in die Terminpläne der Konzertveranstalter und die Charterwartungen der Plattenproduzenten wieder. Während Brel (Alexander Simon) auf dem Bühnenpodest im Sessel über sein bisheriges Leben und seine Träume räsoniert, steht neben dem Pianisten (Kersten Kenan) sein früheres Ich. Sascha Merlin verkörpert seinjüngeres, aalglattes Sänger-Ich. Barfüßig wirft er sich mit Inbrunst in die Interpretation der hintergründigen Chansons des flämischen Liedermachers. Der gereifte Brel kann über so viel Naivität nur den Kopf schütteln. Er ist zum Aussteiger geworden. Auf der Inselgruppe der Marquisen findet er, schon geschwächt von den ersten Anzeichen seiner Krankheit, zu innerem Frieden und Ruhe. Und doch lässt es ihm keine Ruhe: Einmal noch will er singen. Er übernimmt die Position am Mikrofon. Das ist der Moment, auf den die Zuschauer im prall gefüllten Nachtasyl gewartet haben: Alexander Simon interpretiert „Ne me quitte pas“. Erst jetzt entfalten die Chansons ihre Gänsehaut erzeugenden Ausstrahlung. Sie benötigen dazu das prall gelebte Leben eines Mannes, der die Sinnenfreuden, die Schmerzen, die Leidenschaften, die Enttäuschungen und der Zigarettenqualm verströmt. So ein Interpret ist Simon. Er zeigt in diesem Moment, was den Erfolg Brels ausgemacht hat: Er lebte seine Lieder auf der Bühne, er verausgabte sich mit verströmender Intensität. So kommt dieser Abend dem Charakter Brels zum Schluss doch noch ganz nahe. Birgit Schmalmack vom 13.12.12
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