Kaspar, Häuser, Meer

Kaspar Häuser Meer, Thalia

Tanzend auf dem Aktenvulkan

Welche Aktenleichen mögen sich zwischen den zahllosen Aktendeckeln verbergen, die das Büro beherbergt? Die drei Frauen im Kampf gegen die Zeit ( Victoria Trauttmansdorff, Gabriela Schmiede, Birte Schnöink) sind Mitarbeiterinnen in einem Jugendamt. Alle sind sie einst angetreten um Leben zu retten, Kindern zu helfen und Eltern Hilfestellungen zu geben. Doch sie ertrinken in einem Meer von möglichen Kaspar Hauser Fällen, stehen oft vor verschlossenen Türen in dem Meer von Häusersiedlungen, hinter denen sich mögliches Leid verbergen könnte. Immer in der Angst, das eine wichtige Detail übersehen zu haben, das das alltägliche Erziehungselend von lebensbedrohlicher Misshandlung und Vernachlässigung trennt. Die Drei kommen immer zu spät. Atemlos ist ihre Sprache. Oft fehlt selbst die Zeit für Verben, abgehackt rasen sie im Schnellsprech durch ihre Pflichten, Versäumnisse, Rechtfertigungen und Selbstzweifel. Sie können nur scheitern. Das sehen sie spätestens an ihrem überengagierten Kollegen Björn, der sich in all seinen Aktennotizen so verzettelt hat, das er mit Burnout eingeliefert worden ist.
Das kann Babs nicht passieren, so glaubt die betont abgeklärt auftretende 50-Jährige. Sie will fest an ihren Erfahrungsriecher glauben und ignoriert das klingende Telefon konsequent. Die ständig überforderte Silvia hat hinter ihrer Statistik den Tröster Alkohol griffbereit und träumt als letztem Ausweg von einem Sprung aus dem Fenster. Die junge, übereifrige Anika versenkt sich so sehr in die Rettung anderer Kinder, dass sie ihr eigenes darüber vergisst und selbst von einer Mitarbeiterin des Kindergartens als kritischer Fall betrachtet wird.
Das Stück von Felicitas Zeller legt den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die ihre Neurosen auf dem Rücken der Schwächsten austrägt. Zeller ist mit ihrer durchkomponierten Sprachoper über den Alltag im Jugendamt ein Coup gelungen: Ohne je in die Nähe von Betroffenheitskitsch zu geraten, lässt sie die Verzweiflung, Überforderung und Hilflosigkeit spüren, die sich jenseits von Aktenordnern im Amt abspielt.
Regisseurin Friederike Harmstorf macht im Thalia in der Gaußstraße sehr deutlich, dass diese Frauen nur scheitern können. Sie tanzen auf einem Vulkan aus Akten, der jeden Moment ausbrechen kann. Harmsdorf hat sich entschieden ihren Zustand am Rande des Nervenzusammenbruchs durch das Abgleiten in hysterisches Kichern, in hektisches Herumlaufen und in spätpubertäres Hopsen zu zeigen. Das führt zur gewünschten Entspannung im Publikum, demonstriert die komplette Überforderung, birgt aber leider auch die Gefahr der klamaukigen Überzeichnung mit sich.

Birgit Schmalmack vom 10.11.14



Zur Kritik von

Abendblatt 
NDR 
 


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