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Wie kann man wissen, wann eine Geschichte beginnt und wann sie endet? Doch auf jeden Fall kann man sein Leben in ein Vorher und Nachher einteilen. Da ist sich Wahab sicher. Bei ihm ist es der Moment, an dem seine Mutter zu der Frau mit dem unbekannten Gesicht wurde. Von einem Tag auf den anderen erkannte er sie nicht mehr. Sie wurde zu der „Frau mit den langen blonden Haaren“, zu der er keine Verbindung mehr hatte. Von diesem Tag an begann das Schweigen zwischen ihnen, aus dem sie sich nie wieder befreien konnten.
Oder begann die Trennung zwischen vorher und nachher für ihn nicht schon viel früher? An dem Tag, als er direkt miterlebte, dass in einem Bus alle Menschen einfach niedergemetzelt wurden? War das nicht viel eher der Tag, an dem sich sein Leben komplett änderte? Denn danach flohen er und seine Familie aus dem Libanon nach Europa.
Wie von der Welle, die zu Beginn im Fleetstreet Theater auf der Projektionsfläche durch den Raum knallt, fühlt sich Wahab durch sein Leben geschleudert. Dieses Ausgeliefertsein erzeugt bei ihm eine Wut, die er kaum unterdrücken kann, so sehr er sich auch bemüht. Sie kann bei den kleinsten Anlässen, scheinbar leicht wegzustecken, ausbrechen.
Oder war es doch eher der Moment, als das Klingeln ihn heute morgen aus dem Bett riss? Als sein Bruder ihm knapp mitteilte, dass er ins Krankenhaus zu kommen habe. Seine Mutter liegt im Sterben. Doch da ist dieses Schweigen zwischen dieser Frau mit dem unbekannten Gesicht und ihm, dem Sohn, der eigentlich Trauer empfinden sollte. So würde er am liebsten weglaufen, vor dieser Überforderung eines Zuviel an Familie, Erwartung, Emotion und Schuld fliehen. Erst als er sich dieser Angst stellt, kann etwas Neues beginnen. Das erkennt er ganz zum Schluss.
Judith Rosmair hat diesen Bühnenmonolog von Wajdi Mouawad Mit minimalen Requisiten, nur einem Benzinkanister und einer Wasserschüssel, auf die intime Bühne des Fleetstreettheaters gebracht. Mit dem jungen Schauspieler Mouataz Alshaltouh hat sie eine Idealbesetzung gefunden, der die Geschichte von Wahab in jeder Sekunde lebendig werden lässt. Sowohl die Wut, das Aufbegehren, den Hass, die Aggressivität wie auch die Trauer, die Zärtlichkeit und die Sehnsucht, alles spielt er unprätentiös und authentisch. Und zwar mit Hilfe des wunderbar sprachgewaltigen und bilderreichen Text, der es sich nie einfach macht, denn er zeigt, wie ambivalent und vielschichtig jeder Mensch ist. Und wie stark er von seiner ganz eigenen Geschichte geprägt ist, die er sich immer wieder neu erzählen, in der er immer wieder neue Scheidepunkte entdeckten und die er immer wieder umschreiben kann. Beunruhigend und hoffnungsvoll ist dieser Abend zugleich geworden. Eine beeindruckende Inszenierung, der man noch viele Zuschauer:innen wünscht.
Birgit Schmalmack vom 11.10.24
Abbildung: Im Herzen tickt eine Bombe, Fleetstreet -
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