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Geschwister, Gorki

Das deutsche Erbe

Alles wirkt wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Die imposante Halle des großen Hauses mit seinen großzügigen Treppenaufgängen, der langen Tafel neben dem Kaminfeuer ist in Sepia getaucht. Zuerst ist nur eine Radiostimme zu hören. Es ist das Jahr 1967. In Berlin ist der Schah zum Staatsbesuch und die Straßen sind in Unruhe. Während die Bürger, die in der Radioreportage zu Wort kommen, sich an dem gut aussehenden Herrscherpaar erfreuen und in freudiger Erwartung geduldig auf deren Ankunft warten, gibt es auch andere Gruppen, die weniger Begeisterung zeigen. Auf den Berlinern Straßen sammeln sich die Studenten zu Protesten. Das Programm wechselt zu klassischer Musik. Zu den Klängen von Beethovens Eroica, in einer Aufnahme von 1944 unter dem Dirigenten Furtwängler, stolziert der Hausherr (Falilou Seck, ) formvollendet ins repräsentative Foyer. So wird hier alles an diesem Abend, den Ersan Mondtag erdacht und inszeniert hat, mit Bedeutung aufgeladen. Jedes kleinste Detail (Bühnenbild: Simon Lesemann) wird zu einem Symbol.

Da sitzt also schon fast die gesamte Familie zu der kleinen Feier zu Ehren des verstorbenen Großvaters zusammen, nur ein Stuhl ist noch frei. Der kleine Fritz, der keinen Satz ohne zu stottern hervorbringen kann, die wohl geratene blonde Tochter und nicht zuletzt die adrette, lieb unterwürfige Ehefrau (Çiğdem Teke), die brav lächelnd alle Beleidigungen des Hausherren wegzustecken versucht. Doch eine Tochter fehlt noch. Es klingelt, Elisabeth (Lea Draeger) ist da, in schwarzer Ledermontur, mit Blut verschmiertem Gesicht. Das Suppenlöffeln wird zur Demonstration der Gleichförmigkeit. Zum Uhrschlag heben und senken sie die Löffel, nur Elisabeth steigt irgendwann aus und widersetzt sich dem Gleichklang. Sie ist es auch, die einen neuen Sender einstellt. Eine Reportage über die Studentenproteste ertönt. Plötzlich ist eine Frauenstimme zu hören. Die von Elisabeth, die eine wütende Rede gegen den Besuch des Schahs, gegen die Nazi-Beamten, die Nazi-Professoren, die Nazi-Politiker und die Nazi-Eltern hält. Sie dreht die Lautstärke immer weiter auf. Als sie danach in die obere Etage verschwindet und der Vater kurze Zeit später hinterhergeht, ist klar, was da oben passiert, ohne dass es gezeigt werden muss. Nachts verlässt sie mit einem Koffer das Haus, doch nicht ohne vorher den Gashahn aufzudrehen.

Etliche Jahrzehnte später. Es ist jetzt das Jahr 2000. Die Haushälterin ist mittlerweile sehr schwach auf den Beinen. Die meisten Familienmitglieder leben nicht mehr. Elisabeth ist im Zuge der Demonstrationen umgekommen. Der Hausherr nach der Ehefrau gerade gestorben und die blonde Tochter (Ariane Andereggen) zum Erbantritt zurückgekehrt. Da stolpert der Dritte der Geschwister herein: Aus dem einst stotternden Fritz (David Bennent) ist ein Erwachsener geworden, der klar seine Forderung äußern kann. Er will keinen Anteil am Haus oder Inventar, er will die Schlüssel zu den Akten, Tagebüchern und Archivunterlagen der Eltern. Doch im Gegensatz zu ihm hat die blonde Tochter das Vergessen perfektioniert. Keine Ahnung wo der Schlüssel ist.

Zwischen den zurückgekehrten Geschwistern geistern die schwarz-weißen Gestalten aus der Vergangenheit durchs Haus. Diese Geister der düsteren Vergangenheit spuken in ihrem Kopf herum und beanspruchen ihren Platz im Haus. Zum Schluss nimmt die Haushälterin den Schlüsselbund in die Hand und schließt die Geister der Vergangenheit sorgsam ein. Jetzt sind sie hier konserviert. Derweil hört man wieder eine Reportage aus dem Radio. Von der ersten Mordtat des NSU wird berichtet. Der Blumenhändler Simsek ist ihr erstes Opfer.

Das vermeintliche Lernen aus der deutschen Geschichte hat nur oberflächlich stattgefunden. In den meisten Familien wurde stattdessen das Vergessen und das Verschweigen perfektioniert. Die Kontinuität der Täterschaft ist ungebrochen. Das ist die dringliche Botschaft dieses Abends. Dafür braucht es kein Einfühlen in die einzelnen Familiengeschichten und kein tieferes Verständnis für die persönlichen Biographien. Mondtag erzählt hier nicht vorrangig eine konkrete Familiengeschichte sondern liefert Versatzstücke von vielen bekannten Biographien, die sich im Kopf des Zuschauers zu einer zusammensetzen, ohne aber die Details dieser speziellen Familie mit Leben zu füllen. Diese bewusst von Mondtag gelassenen Leerstellen sind unwichtig, denn auch wenn deren Kinder oder Enkel zahlreiche Aufarbeitungsversuche unternommen haben, haben sie doch nichts verhindert.

Diese Inszenierung präsentiert schon Beginn alle ihre Stilmittel und hält sich bis zum Ende ganz konsequent an ihre Umsetzung. Diese Stringenz und zielgerichtete Beschränkung ist in all ihrer Opulenz beeindruckend. Mondtag verzichtet auf jede Brechung oder Ironie. Seine Botschaft ist so klar wie eindeutig. Diejenigen, die etwas zu verlieren haben, werden das Verdrängen immer der Konfrontation vorziehen. Lieber das Kapitel abschließen und als schwarz-weiße Filmsequenz einfrieren, als eine Auseinandersetzung wagen. Aus der Geschichte lernen, erweist sich als Illusion.

Birgit Schmalmack vom 1.11.24

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