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Sie solle einmal ihren „USP“ ausnutzen und über „ihre Leute“ in Ostdeutschland berichten. Das hört die junge Volontärin Edita (Yanina Cerón) aus ihrer Redaktion. Doch was und wer sollen das sein? Ihr Unic Selling Point soll ihr aufgrund ihrer Herkunft den Zugang zu den unbekannten Russlanddeutschen u.ä. ermöglichen. Wieder zurück nach Jena und ihrer Familie, um dass für ihre beruflichen Ziele auszunutzen? Never. Genau davor ist sie doch nach Berlin gegangen. In die Stadt, in der alle Richtungen erlaubt sind. Egal ob es diese sind, aus denen man kommt oder in die man geht. Doch woher kommt sie eigentlich? Weder ihre Mutter Lena noch ihre Tante Tatjana will etwas mit der Vergangenheit zu tun haben. Jeder wollte nur der Fleischwolfzeit der Nachwendejahre entkommen, doch wo sind sie gelandet? Aus der Ost-Ukraine kamen sie in eine Plattenbausiedlung nach Jena.
Regisseur Sebastian Nübling hat den umfangreichen Roman von Sasha Maria Salzmann auf zwei Mutter-Töchter-Beziehungen herunter gebrochen. So wird seine Bühnenadaption im Gorki zu einer Studie über das politische, gesellschaftliche und interfamiliäre Sprachlosigkeit. Mit wenigen Strichen werden die zwei Mütter mit ihren zwei Töchtern gezeichnet. Männer sind hier die Leerstellen. Bei Nübling tauchen sie (im Gegensatz zum Roman) nicht auf. Dei Frauen sind einsame Satelliten, die nicht einmal untereinander Beziehungen aufbauen können.
Editas Mutter Lena (Çiğdem Teke) spielt immer noch die Karrierefrau, die sich in der Sowjetzeit mit besten Noten und ein wenig Bestechungsgeld eine Stellung als Ärztin erarbeitet hatte, obwohl sie jetzt in Deutschland als Krankenschwester arbeiten muss. Eine lesbische Tochter, die nie einen Schwiegersohn mit nach Hause bringen wird und etwas auf dem Kopf hat, bei dem die anderen nur fragen, was das denn sei und Edi entgegnet: „Haare!?“, gehören definitiv nicht zu ihrem Wunschkatalog, um ihr angekratztes Image aufzupolieren.
Die zweite Mutter auf der Bühne, Tatjana (Anastasia Gubareva) nutzt zum Glänzen einzig ihr Äußeres. Mit aufwendig in die Höhe toupierter Blondmähne zu apricotfarbenen Partykleidchen und Stöckelschuhen beweist sie schon optisch, wie sehr sie noch dem Schönheitsideal ihrer ehemaligen Heimat verbunden ist und bestärkt ungewollt alle Klischees gegenüber den aufgetakelten Ukrainerinnen. Als allein erziehende Mutter, die sich einst vom deutschen Vater des Kindes hatte über die Grenze schleppen lassen, steht ihr wenig anderes zur Verfügung. Auch ihre Tochter Nina (Lea Draeger) ist eine herbe Enttäuschung. Zuerst dachte sie noch, sie selbst würde das Kind in ihrem Bauch ablehnen, doch bald erkannte sie: Es ist genau umgekehrt. Auch nachdem die Tochter die Diagnose Autistin erhalten hat, hört die Mutter nicht auf, ihre Tochter dazu anzustacheln, endlich was aus ihrem Leben zu machen. Stellvertretend für sie selbst. Ihre Versuche dies alles zu kaschieren, werden im Laufe des Abends immer müder. Versucht sie zu Beginn noch an jeder passenden und unpassenden Stelle immer wieder ihren Lieblingssong "Arlekino" zu performen, so werden ihr Gesang und ihre Bewegungen zunehmend schleppender. Zum Schluss muss ihre Tochter sogar hinter sie treten und versuchen sie an der Taille in die Luft zu heben. Was natürlich misslingt. Ihre Tochter hat sich derweil in einen virtuellen Raum zurückgezogen, in dem sie alles findet, was sie braucht und der ihr eine perfekte Abschottung nicht nur zur Mutter erlaubt.
Jede stößt hier immer wieder an Mauern. Auf der Bühne des Gorkis ganz eindrücklich symbolisiert durch den Eisernen Vorhang (Bühnenbild: Evi Bauer) in gleich mehrfacher Ausführung. Meist stehen die Figuren ganz alleine auf der Bühne, fein säuberlich getrennt voneinander, hinter sich die Mauer. Denn das Schweigen hat sich in ihre Familien hineingefressen. Dort wo die Gesellschaft die Aufarbeitung der Geschichte, der Migration und der Herkunft verweigert, deckt sich auch in der Familie ein Mantel des Schweigens über die eigenen schmerzlichen Erfahrungen. Während Lena sich an die Beine ihrer Tochter klammert und die eine Antwort, nämlich die von ihr gewünschte, erzwingen will, bleibt diese stumm. Dabei wünscht sich Edita so sehr ein echtes Gespräch mit ihrer Mutter, doch kaum bietet sich eine Gelegenheit, dann senkt sich wieder die Eiserne Mauer des Schweigens herunter. "Warum muss unser Gespräch immer abreißen, wenn es mal wahrhaftig wird?" Doch beide Mütter sind so sehr damit beschäftigt ihre jeweiligen Fassaden vor sich herzutragen, dass für nichts Weiteres mehr Energie übrig bleibt.
Warum, dass versucht Nübling in einem Einschub zu erklären, der ziemlich nüchtern berichtend und umso berührender daherkommt. Edita erinnert sich an Gespräche mit ihrer Oma, die die Zeit des Holodomors miterlebte und überlebte. Während dieser Zeit versuchte Russland die Ukraine auszuhungern und Millionen von Menschen starben. Ein Genozid, der aber in der nächsten Generation totgeschwiegen wird. Ebenso wie die Migration, die Diskriminierung und die mangelnde Anerkennung. Einzig die dritte oder vierte Generation könne mit der Verarbeitung der Vergangenheit beginnen, so das Fazit.
Im letzten Bild berichtet Nina von einem Traum. In ihm hätte sie eine hintereinander stehende Reihe von Müttern und Töchtern gesehen, die sich an der Schulter anzuticken versuchen. Woraufhin sich die jeweils vordere umblickt und damit nie der direkte Blickkontakt zwischen den 'Generationen möglich wird. Während sie davon berichtet, geschieht etwas Überraschendes: Der Eiserne Vorhang, der sie von den anderen trennte, schmilzt und sie kann durch ihn hindurch schreiten. Nur ein einziger Regenguss hat ihn zerreißen lassen; die Stahlmauer war nur aus Papier. So setzt sie sich zu den drei anderen Frauen in den Sitzkreis auf den Boden. Ein Fünkchen Hoffnung am Ende dieses Abends. Mauern können aufgeweicht werden. Nur ein Traum?
Dieser Abend ist einer der Nicht-Beziehungen, der Nicht-Kommunikation. Die Frauen reden nur mit dem Publikum, versuchen ihm und sich selbst ihre Geschichten zu erklären. Doch sie rasen so getrieben von ihren unerfüllten Vorstellungen, Erwartungen und Sehnsüchten durch das Stück, dass es auch im Zuhören schwer fällt, zu ihnen Kontakt aufzunehmen. Ihre abgeschnittenen Emotionen schaffen es kaum über die Rampe. Der Mensch ist eben erst ein Mensch in seinem Gegenüber, fehlt ihm dieses, so bleibt er unverbunden und seine Entwicklungsmöglichkeiten stark begrenzt. Das ist die eigentliche schmerzliche Leerstelle, die in dieser eindrücklichen Inszenierung überdeutlich wird.
Birgit Schmalmack vom 30.10.24
Abbildung: Im Menschen muss alles herrlich sein, Gorki - © Ute Langkafel MAIFOTO
taz |
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