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Der Apfelgarten, Thalia

Wir sind ja so frei!

Äußerlich ein Schnösel, innerlich ein Schwein, so charakterisiert er sich selbst, der Emporkömmling Torben Grabowski, dessen Vater noch als Arbeiter auf dem Hof geschuftet hat und der jetzt im Gutshaus mit dem Sekttablett die Gäste begrüßen will. Die nominelle Besitzerin des Altländer Apfelhofes Astrid (Maja Schöne) kehrt aus Berlin in ihre ehemalige Heimat zurück, mit ihrem Gefolge aus Geliebten, Bruder und Tochter (Jirka Zett, André Szymanski, Lisa Hagemeister). Noch glaubt sie, dass ihr hier ein sicherer Unterschlupf gewährt werden kann, nachdem ihr in der Großstadt das Geld ausgegangen ist. Doch weit gefehlt: Der Apfelhof ist hoch verschuldet und steht kurz vor der Pfändung. Da kommt der neureiche Emporkömmling mit ins Spiel: Er hat sich einen perfekten Rettungsplan für das Gut ausgedacht: Abholzung des Apfelgartens und Verpachtung des wunderschönen Elbgrundstücks an Studenten und Großstädter für Tiny Houses.
Der Stoff kommt einem bekannt vor. Tschechows Kirschgarten lässt grüßen. Die Bestsellerautorin Dörte Hansen hat ihn eben mal von Russland von vor hundert Jahren in die Jetztzeit ins Alte Land verlegt. Regisseur Antu Romero Nunes bürstet die Personen ziemlich gegen den Strich und lässt sie so weit am Abgrund tänzeln, dass man nicht denken muss, man säße ein paar Häuser weiter im Ohnsorg Theater, wo gerade Hansens "Alte Land" läuft. Bei ihm treffen jetzt nicht nur Arm und Reich, nicht nur Provinzler auf Städter, nicht nur Arbeiter auf Bourgoise sondern auch Vergnügungssüchtige auf Bodenständige und Verdränger auf Erleidende. Diejenigen, die hier auf die Hofbewohner wie ein Unwetter hernieder prasseln, sind es gewohnt, sich jederzeit mit der nächsten Charlottenburger Partygesellschaft von ihrer eigenen Deprimiertheit ablenken zu können. Sie flattern von einer Blüte der Zerstreuung zur nächsten. Doch die Hofbewohner haben keine Alternative. Dieser Hof ist ihre Arbeit, ihre Wohnung und ihr Leben. Letztere sind es nicht gewohnt sich ihren Gefühlen zu widmen, dafür haben sie im Alltag keine Zeit. Erstere haben es verlernt Gefühle zuzulassen, denn sie gelten als Zeichen der Verlierer, die ihre Chancen nicht zu nutzen wissen. So überspielen hier alle ihre Emotionen, die einen aus mangelnder Substanz, die anderen aus mangelnden Möglichkeiten. Herauskommt eine für kurze Zeit zusammen gewürfelte Hausgemeinschaft, die sich nicht verstehen kann und ständig am Überspielen der eigenen Abgründe ist. Sobald eine ernste Unterhaltung droht, rettet man sich selbst in den nächsten Witz. Nunes unterstützt dieses Verstecken, indem er die Figuren auf der Bühne zum Teil derben Klamauk veranstalten lässt. Wenn der Nachbar (Björn Meyer ) mit dem antiquarischen Schrank kopuliert, wenn die demente Oma (Gabriela Maria Schmiede) mit allen Männern flirtet, wenn Grabowski beim Versuch das Haus endlich zu verlassen, in Slapstickmanier immer wieder stolpert. Bei der Szene der sommerlichen Gartenfeier im letzten Drittel gelingt Nunes aber mit der gewollt fröhlichen Partysoundtrack (live: Carolina Bigge ) nach Volksfestmanier, dem betrunkenen Gehopse hinter den Glastüren und den besorgten und nachdenklicheren Gesprächen vor den Türen eine gekonnte Balance zwischen Spaß und Ernst.
Auch dem neureiche Arbeitersohn bleibt zum Schluss wenig von seinem Triumph, jetzt stolzer Besitzer des Hofes zu sein. Alle Menschen, die er damit hätte beeindrucken können, sind weg und die Anerkennung, der er so hinterher gerannt ist, bleibt ihm weiterhin verwehrt. Was nützt ihm das Siegergefühl, wenn keiner mehr da ist, der ihn dafür bewundert.
Dennoch darf man sich erstens fragen, was an dieser aufgedrehten Gesellschaft so typisch norddeutsch sein soll. Allerhöchstens beweist sie mit ihrer überhitzten Darstellung von Expressivität und Extrovertiertheit, dass sie nie den Umgang mit Gefühlen gelernt hat und deswegen jeder Weiterentwicklung einer erwachsenen und sich selbst bewussten Persönlichkeit im Wege stehen muss. Zweitens darf man sich fragen, worin der Mehrgewinn dieser Neuschreibung liegt. Was erfahren wir durch die Aktualisierung über unsere heutige Gesellschaft?
Hatte man mit den Personen im Tschechows Kirschgarten noch großes Mitgefühl, weil alle von den Zeitumständen geprägt und mitgerissen worden sind, und entwickelte Verständnis für ihre Gefühle und ihr Verhalten, so mag man dies bei diesen selbstgefälligen oder in ihrer Welt gefangenen Menschen kaum entwickeln. Nunes stellt sie eher aus, als dass er sie erklärt. Sympathisch wird einem höchstens die hart und brav arbeitende Wiebke (Catherine Seifert), die bis zum Schluss im Haus verharrt, zusammen mit der Oma und ihrem Jagdgewehr auf dem Schoß. Mit dem Blick auf die Tür. Da hat jemand wirklich etwas zu verlieren. Die anderen sind alle vorgeblich so frei, dass sie sich über jeden Verlust erhaben fühlen.
Birgit Schmalmack vom 4.11.24

Abbildung: Der Apfelgarten, Thalia - Foto: Krafft Angerer

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