Das Theater hat mich zum Menschen gemacht


Auf Wagner Carvalhos Konferenztisch in seinem Büro im Vorderhaus in der Naunynstraße liegt das neue Hygienekonzept des Ballhauses. Nun sind die Regeln für die Wiedereröffnung im Oktober klar. Nur jeder dritte Stuhl steht noch um den großen rechteckigen Tisch. Carvalho trägt konsequent seine schwarze Maske, wenn er nicht an seinem Platz sitzt. Seit Montag ist er dabei mit seinem Team die Hygieneregeln einzuüben, die in Fleisch und Blut übergegangen sein müssen, wenn das Publikum kommt. Die Prüfung durch eine Expertin der Stadt hat die Bedingungen für die kommenden Aufführungen geklärt: nur Performances mit höchstens zwei Darsteller*innen sind erlaubt, zu denen nur dreißig Zuschauer*innen kommen dürfen. Viele Gespräche hat Carvalho mit den Künstler*innen des Ballhauses führen müssen, um herauszufinden, was in diesem Rahmen künstlerisch möglich sein kann, wenn sein Haus endlich Gäste empfangen wird. Das Team um Jasco Viefhues wird für die Premiere von "Complex of Tensions" am 9.10.2020 das erste am Ballhaus sein, dass diese Möglichkeiten ausloten muss.
Denn zurzeit ist das schöne Hofgebäude leer. Das ist bitter für einen Menschen wie Carvalho, der von sich sagt, dass er erst durch das Theater zu einem Menschen geworden ist. Zu einem politischen, fügt er sogleich hinzu. Im Brasilien zurzeit der Militärdiktatur fing er schon mit 12 Jahren an Theater zu machen. Seit er 1996 zum ersten Mal am Ballhaus auftreten durfte, verbindet ihn eine besondere Geschichte mit dem Haus. 2009 holte ihn Shermin Langhoff als Kurator und Berater ans Ballhaus und ab 2012 wurde er, zuerst zusammen mit Tunçay Kulaoğlu, dann ab 2014 dessen alleiniger künstlerischer Leiter.
"Das Geld ist knapp, aber noch ausreichend," meint Carvalho. Er ist froh, dass das Ballhaus eine institutionelle Förderung erhält, daher seien die Miete, Betriebskosten und die Gehälter der festen Mitarbeiter abgedeckt. Doch dieses Budget beinhalte keine Produktionskosten, die müssten jeweils über Projektförderungsanträge hereingeholt worden. Doch diese würden nur bei durchgeführten Vorstellungen ausgezahlt werden. Also zurzeit nicht. Ob er die 13 bewilligten Projekte dieser Spielzeit, die er 2020 bisher nicht zeigen konnte, ins nächste Jahr hinüber schieben kann, ist mehr als fraglich. Das bedeute leider für die am Haus arbeitenden Künstler*innen, das sie zurzeit keine Einnahmen hätten. In diesem Punkt erwartet er von der Stadt mehr Flexibilität von den Rechnungsprüfer*innen.
Carvalho entschied sich nach dem Shutdown mit seinem Team gegen ein Online-Angebot des Ballhauses. Denn für ihn ist das Theater klar ein reales Erlebnis der Begegnung. Da stehe er ganz in der Tradition von Stanislawski, Brecht und Brooke: Erst eine Person auf der Bühne und eine Person im Zuschauerraum lasse Theater entstehen. Das funktioniere nicht am Bildschirm.
Die Coronazeit hat dem Theatermenschen Carvalho noch einmal mehr die Bedeutung der Kultur für den Menschen bewusst werden lassen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das die Kommunikation, den Austausch und die Gemeinschaft, die ihm die Kultur eröffne, brauche. Umso mehr würde er sich auch mehr Wertschätzung der Politik für die Kultur wünschen. Da rette man mal eben die Lufthansa oder kümmere sich um die Automobilindustrie, aber vergesse gerne die Kultur. Gerade im Hinblick für sein Haus weiß Carvalho um die Gefahr von Lücken, die nur schwer wieder geschlossen werden könnte, wenn erstmal eine Institution verschwunden ist.
Denn Carvalho sieht Theater nicht nur als künstlerischen Akt sondern auch als einen Anstoß zu gesellschaftlich notwendigen Diskussionen. Davon gäbe es jetzt mehr als genug. Corona hätte schließlich nicht alle gleich hart getroffen, wie gerne behauptet wurde, sondern die Spaltung und Ausgrenzung noch weiter verstärkt. Das beobachtet Carvalho sowohl in Deutschland, wo unter den Auswirkungen des Shutdowns speziell ärmere Familien mehr zu leiden hätten, wie auch im Hinblick auf Schwellenländer wie Brasilien, wo die Pandemie die Armen noch viel härter getroffen hat als die Reicheren. Er brennt darauf in den Arbeiten an seinem Haus die Menschen wieder in den Fokus zu rücken, die an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt werden. Er wird weiter arbeiten für seine Vision einer Gesellschaft, die ein Haus wie das Ballhaus überflüssig macht. Für eine Gesellschaft, die keine Kategorie des "Postmigrantischen Theaters" mehr braucht, weil die gleichberechtigte Teilhabe aller selbstverständlich geworden ist.
Birgit Schmalmack vom 30.8.2020




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