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Nachtasyl BE
Nur der nackte Mensch
Nur der nackte Mensch ist übrig geblieben in dieser Lagerhalle des menschlichen Materials, in dieser Absteige des menschlichen Elends. Hier hausen die Gestrandeten der Gesellschaft, nachdem sie alles Äußerliche verloren haben. Doch auch das Innerliche, die Seele scheint den Meisten von ihnen abhanden gekommen zu sein. Missgunst, Eigennutz, Streitsucht, Egoismus und Habgier, Unfähigkeit zum Mitleid schreit aus jedem in diesem Hochregallager mit den Matratzen und den Zeltplanen, die die fehlende Privatsphäre ersetzen sollen. Hier geht dem Mensch das Menschliche abhanden. Hier bricht das Tier in ihm durch. Das spürt der Dieb Wastja deutlich. Deshalb braucht er die junge Natascha so dringend. Sie soll ihn zu einem Ausstieg verhelfen. So wie er braucht eigentlich jeder von ihnen einen, der an ihn glaubt. Auch wenn dieser Glauben nur eine schöne Lüge sein sollte. Das vermag der alte „Pilger“ Luka (erfeulich unpathetisch: Christian Grashoff), der für einige Zeit Hoffnung im Nachtasyl verbreiten kann. Er hat ein Herz für die anderen, er hat Mitleid, weil er sich eine Hoffnung bewahren konnte. Doch als er so unerwartet verschwindet, wie er gekommen ist, erweist sich der Alkohol als der weitaus zuverlässigere Freund. Er tröstet immer, wenn man genügend Kupeken zusammen gebracht hat. Er lässt vergessen, dass es ein miserables Gestern und ein unerfreuliches Morgen gibt, wenn das Heute so ein wohlig warmes Gefühl im Bauch erzeugt. Da liebt man es sich als Mensch zu fühlen, da ist man friedlich und kann mit den anderen singen statt zu streiten.
Thomas Langhoff inszeniert eine pralle, gewollt elendsreiche Aufführung des Gorkischen Nachtasyls. Die philosophisch klug unterfütterten Texte sind eine Freude für die versierten Altschauspieler des Ensembles. So hinterlässt der Abend auch ein wohlig beschauliches Gefühl im Zuschauer: Die gezeigte Anhäufung des in allen Farben der Armut ausgestatteten Elends rückt nie in eine bedrohliche Nähe zu ihm in seiner bequemen Theatersessel im Berliner Ensemble.
Birgit Schmalmack vom 15.4.10