Andersen Ein Trip zwischen den Welten
Der rote Vorhang schwingt zur Seite und gibt den Blick frei auf ein surrealistisches Reliefgemälde ohne Farbe. Die glänzenden, weißen Flächen stülpen sich zu angedeuteten Treppen, Tisch, Stuhl und Türen aus. Ein dünner Mann (Marco Kreibich) mit wirrem Haarschopf in engen Beinkleidern, wehendem Mantel und spitzen Schuhen versucht sich in Freeclimbing-Manier auf den wenig Halt bietenden, glatten Flächen quer über die Bühne zu bewegen, ohne den Boden zu berühren.
Ein zweiter, ähnlich kostümierter Herr (Daniel Lommatzsch) zischt: „Heiß.., heiß...“ und beginnt die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der sich als Nordländer in die heißen Länder aufgemacht hatte und dort aufgrund der Hitze nicht hinauswagt und stattdessen seinen Schatten zu Erkundungen losschickt. Doch dieser nutzt die Gelegenheit zur Flucht und wird selbst zu einem Menschen, der erst Jahre später als erfolgreicher, reicher Mann zu seinem einstigen Herrn zurückkehrt.
Andersens Märchen „Vom Schatten“ wird unter Regie von Stefan Pucher in Zusammenarbeit mit dem Musiker Carsten „Erobique“ Meyer zu einem auf der Bühne visualisierten Alptraum. In der Reliefwand öffnen sich riesige Fenster, durch die die Sicht auf schlaflose Menschen und häusliche Katastrophen auf der hinteren Leinwand erlaubt wird. Die Häuserwände öffnen sich und erlauben den Blick hinter die Fassaden. Man blickt auf blut spritzende Auseinandersetzungen in den heilig gehaltenen, heimischen vier Wänden.
Immer wieder gibt es Referenzen an andere Märchen des dänischen Dichters: Eine Frau (Christine Seifert) bettet sich auf einer Liege. Während sie ihr Lied singt, werden ihr die Beine mit den roten Schuhen abgesägt, die dann wie im Märchen „Die roten Schuhe“ ihr tanzendes Eigenleben führen. Eine riesige Tier-Skulptur im Bühnenbild erinnert an „Das hässliche Entlein“. Ein Mädchen zwängt sich durch die kleine Tür im Relief (Birte Schnöink) und singt ihr Lied, während sie Zundhölzer abbrennt („Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“). Am eindrücklichsten ist jedoch die Szene, die an „Des Kaisers neue Kleider“ erinnert: Auf der Leinwand sieht man Bruno Cathomas zu, wie ihm ein Gewand angepasst wird, das unsichtbar bleibt. Völlig nackt stolziert er damit durch das Thalia Foyer. Vor der laufenden Filmaufnahme stolziert Cathomas live im pinkfarbenen Vegaskostüm die Bühnentreppe herum. Irgendwann dreht er sich zur Filmleinwand um und kann nur noch still und peinlich berührt von der Bühne schleichen.
Karin Neuhäuser im Anzug und mit Halbglatze ist ein herausragender Schatten. Sie lässt ihre Figur frei von komödiantischen Übertreibungen, mit denen die anderen Figuren alle gekonnt spielen. Die ironisch kontrastierenden Musikeinlagen verstärkt die distanzierende künstliche Haltung. So bleibt es dem der Schatten überlassen, die existenziellen Fragen darzustellen, die den Menschen und Schriftsteller Andersen Zeit seines Lebens umtrieben.
Sie sind hier:
Archiv