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Was ist gerecht? Wer bekommt das Recht zugesprochen? Was definiert eine gerechte Entscheidung? Diese Fragen zu klären und dafür direkt in den komplexen, juristischen Entscheidungsprozess eines Asylverfahrens einzutauchen, ohne sich dabei in trockenen Abhandlungen zu verlieren, das versucht die begehbare Filminstallation „geRecht„ im TAK, die am Montag ihre Premiere feierte. Um es gleich vorwegzunehmen: Dies gelingt dem Team von „suite42„ unter der Regie von Lydia Ziemke hervorragend. Dazu verbinden sie die persönliche Geschichte einer Richterin (Corinna Harfouch) mit ihrem Ringen um eine gerechte und rechtskonforme Entscheidung im Fall eines aus Afghanistan Geflüchteten (Omar El-Saeidi) und platzieren das Publikum mitten im Geschehen. Die Zuschauer:innen sind während der Vorstellung stetig aufgefordert, die eigene Position zwischen den sechs Gazeleinwänden, die im Bühnenraum verteilt sind, und damit die Perspektive zu wechseln. Wenn sie sich im mittleren Bereich befinden, sind sie von vier Leinwänden umgeben und können sich einen vermeintlichen 360 Grad Überblick verschaffen. Sitzen sie aber in einem der beiden Randbereiche, ist ihre Blickachse oft verstellt von dazwischen liegenden Projektionsebenen. Ein sehr passendes Bild für die unsichere Ausgangslage, in der die Richterin ihre Entscheidung treffen muss. Der Fall, der ihr vorliegt, scheint ihr zunächst klar: Das Gebiet in Afghanistan, in das sie bei Ablehnung den Geflüchteten ausweisen würde, gilt nach dem letzten offiziellen Lagebricht als sicher. Doch sein Anwalt (Roland Bonjour) behauptet das Gegenteil. Wie ist es um Glaubwürdigkeit des Geflüchteten bestellt? Erste Zweifel tauchen auf, dass er seine Geschichte nur entlang der geltenden Bestimmungen, die einen positiven Bescheid in Aussicht stellen, erzählt hat. Könnte man ihm es verdenken? Und welche Rolle spielt die Übersetzerin (Anke Retzlaff), die offensichtlich ihrer Aufgabe nicht ganz gewachsen ist?
Eigentlich gilt für die Richterin nur die Rechtslage, doch dann mischen sich unvermittelt ihre persönlichen Befindlichkeiten in den Prozess und ihre distanzierte Objektivität gerät in Gefahr. Ihr Sohn, der als Kriegsfotograf arbeitet, scheint genau in dem Gebiet, das nach jetzigem Lagebericht als sicher gilt und in das sie den Antragsteller zurückschicken würde, verschollen zu sein. Sogleich ändert sich ihre Perspektive. Plötzlich sitzt sie mit dem Antragsteller zusammen in einer Sandkiste, in der sie die Rollen tauschen und er die Robe überzieht. Wie Mensch gewordene Ameisen wühlen sie sich durch den Fall. Denn die Richterin bewundert diese Tiere. Sie scheinen ihr über ein enormes Maß an moralischer Größe zu verfügen, obwohl sie nicht einmal ein Bewusstsein davon besitzen. Sie passen sich in ihr Gesellschaftssystem ein, tragen das Sechsfache ihres eigenen Gewicht, wissen genau um ihre Aufgabe, erfüllen sie gewissenhaft und ziehen sich zum Sterben zurück, wenn sie sie nicht mehr leisten können. Dieses System scheint der Richterin als das Optimum des gesellschaftlich Möglichen. Doch dieses Regelwerk, dem sie auch als Juristin ihr Leben lang gedient hat, wird unwillkürlich in Frage gestellt, als sie ahnt, dass ihre Entscheidung sie persönlich betreffen könnte.
Die Schwierigkeit In diesem komplexen Geflecht aus Übersetzung, kulturellen Codes, privaten Umständen, persönlichen Einstellungen, Einschätzung der zuständigen Stellen, aktuellen Rechtsvorschriften, Quotenvorschriften, Tagesform, Anwaltsbemühungen und eventuellen Traumata des Geflüchteten ein gerechtes Urteil von einer Einzelperson zu fällen, das über Leben und Tod eines Menschen entscheidet, wird an diesem Abend überdeutlich. Die Unzulänglichkeit der dafür zur Verfügung stehenden Mittel ebenso.
Die Handlungsebene (Autor:innen Mehdi Moradpour, Matin Soofi pour Omam, Peca Stefan) mag auf den ersten Blick arg konstruiert erscheinen. Zumal wenn deutlich wird, dass die Richterin auch noch eine eigene Fluchtgeschichte besitzt. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, als sie mit ihrem Sohn aus der DDR in den Westen floh. Doch das transnationale Team schafft es, durch die geschickte Bühneninstallation (Afra Nohabar), das eingeflochtene experimentelle Cellospiel (auch Anke Retzlaff), die intelligente Filmbearbeitung (Daniel Hengst), das lenkende Ton- und Musikdesign (Nils Lauterbach) und die offenen Rollenwechsel so viele künstlerische Ebenen einzuziehen, dass man dieser Versuchsanordnung gerne folgt. Die Entscheidung der Richterin bleibt am Ende offen. Beide möglichen Urteile werden verlesen. Die Frage, welches von beiden das gerechtere wäre, wird an die Zuschauenden weitergereicht. Dank dieser Inszenierung haben sie nun genügend Vorwissen, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Oder zu erkennen, wie schwierig dies ist.
Birgit Schmalmack vom 8.6.21
Abbildung: "geRecht" im tak Theater - Foto: Tammo Walter)
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