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Leseprobe

Ein deutscher Türke

Türkischer Psychiater, 63 + deutsche Krankenschwester, 55:

Bis zu seinem Rentenalter war er als niedergelassener Psychiater in einer eigenen Praxis tätig. Auf Kinder haben er und seine Frau verzichtet; dafür reisen sie leidenschaftlich gern.

Er: "Gesellschaftliche Regeln sind dazu da immer wieder auf ihre Brauchbarkeit hinterfragt zu werden. Das müssen auch die Türken in Deutschland tun. Ich habe ihnen gerne ein paar Anregungen dazu gegeben."




„Ich bin Wassermann und ich liebe meine Unabhängigkeit", gesteht der stattliche Mann mit dem vollen, grauen Bart und ergänzt: "Daher habe ich meine Frau auch erst vor fünf Jahren zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geheiratet." "Vorher haben wir schon zwanzig Jahre in wilder Ehe gelebt", ergänzt seine zarte Frau Frauke mit einem Augen-Zwinkern.

Hasim wurde in einem Akademikerhaushalt in Istanbul geboren. "Meine Mutter konnte ebenso wie mein Vater sechs Sprachen. Sie haben schon in den zwanziger Jahren in Deutschland gelebt." Gehobenes Gesellschaftsleben in intellektuellen Kreisen war in seinem Elternhaus selbstverständlich. "Schon als ich zehn war, nahm mich mein Vater mit auf seine Reisen nach Europa, wenn er als Europaabgeordneter zu seinen Sitzungen fuhr." Seine Eltern waren es auch, die Hasim ein Studium in Deutschland nahe legten. So kam er nach Bayern, um dort ein Medizinstudium zu beginnen. Nach dem erfolgreichen Abschluss begann er seine Facharztausbildung zum Psychiater. "Insgesamt arbeitete ich 12 Jahre an bayerischen Krankenhäusern."

Dann aber machte sich der türkische Arzt mit der deutschen Vorbildkarriere für den Freistaat verdächtig. Als er von einer Reise aus Kuba wiederkam, bekam er seinen Abschiebebescheid zugestellt. "Ich fiel unter die damaligen Extremistengesetze. Ich legte sofort Widerspruch ein. Der Prozess endete null zu null. Er wurde einfach ausgesetzt. Es war schließlich kaum zu erwarten, dass ein türkischer Bürger gegen den bayerischen Staat vom einem bayerischen Gericht Recht bekommen sollte, gell?" Ein Hauch von bayerischem Zungenschlag ist in Hasims Aussprache unverkennbar. "An eine Arbeit in einem bayerischen Krankenhaus war nicht mehr zu denken. Also begab ich mich innerhalb Deutschlands in mein inneres Exil. Ich suchte Asyl im liberaleren Norddeutschland."

Hier kam ihm seine Übung im Knüpfen von gesellschaftlichen Kontakten zugute. "Ich bekam die Gelegenheit dem dortigen Bürgermeister meine Lage zu schildern. Er besorgte mir eine Duldung und eine Oberarztstelle in einem städtischen Krankenhaus. In der akuten Notfallstation für Frauen!" Hasim lacht. "Da war ich dann der Hahn im Korbe." Man sieht ihm an, dass ihm diese Rolle gut gefallen haben dürfte. "Und da traf ich auch auf die liebevolle Schwester Frauke. Ich muss wohl nicht verraten, wer da wem die Hand hielt, gell?" Schwester Frauke erleichterte dem neuen Arzt gerne das Einleben.

Sie erinnert sich noch an seinen ersten Tag: "Er kam zum Frühstück in unseren Pausenraum. Zwei türkische Putzfrauen waren auch im Zimmer. Sie tuschelten miteinander: ‚Schon wieder so ein Ungläubiger!' Haben wir gelacht, als mein Mann ihnen die passende Antwort auf Türkisch gegeben hat!" 1980 konnte ein Türke, der als Arzt in einem deutschen Krankenhaus arbeitete, immer noch für Überraschung sorgen. Fraukes Gesicht bekommt einen versonnenen Ausdruck: "Ich habe mich gleich in ihn verliebt. Obwohl ich damals fest liiert war." Neben diesem Mann verlor sie an jedem anderen das Interesse. "Als erstes hast du mir eine Muschel geschenkt, und danach ein Gedicht. Da war es um mich geschehen", erklärt die schmale Frau. Hasim liebt ungewöhnliche Einfälle. "Ich mache gerne Dinge, auf die sonst kaum jemand kommt. Ich bin eben ein Individualist." "Es war spannend mit Hasim", gibt Frauke zu. "Vielleicht ein wenig exotisch?", neckt Hasim seine Frau. "Nein, sogar ein wenig Angst einflößend. Ich kannte damals keine türkischen Männer. Doch ich merkte ja bald, dass ich bei dir kein Kopftuch tragen muss und du mich nicht schlägst", gibt sie den Ball zurück. Hasim revanchiert sich gerne: Er blickt viel sagend auf sein Raki-Glas: "Mein Glas ist schon einige Zeit lang leer. Willst du mir nicht mal ein neues machen?" Frauke senkt gespielt mädchenhaft ihren Kopf: "Aber selbstverständlich, mein Lieber!" Im Vorbeigehen streichelt sie ihn liebevoll am Nacken. "Als brave deutsche Frau mache ich das doch gerne für meinen türkischen Mann", hat sie das letzte Wort beim Hinausgehen in die Küche.

Schon nach einem halben Jahr zog Frauke zu Hasim in seine kleine Wohnung. Ihr Ausblick entschädigte die Begrenztheit der eineinhalb Zimmer. Sie lag in einem Hochhaus mit freiem Blick auf den Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt.

"Bis vor neun Jahren haben wir dort zusammen gelebt. Dann mussten wir leider ausziehen, da der Vermieter sich scheiden ließ und die Wohnung selber brauchte." Hasim lacht spitzbübisch: "Ich habe noch versucht wieder zwischen den Partnern zu vermitteln, aber leider ohne Erfolg!" Dann hörte er zufällig, dass im Nachbarhochhaus eine etwas größere Wohnung frei wurde. Hier wohnen sie heute immer noch. "Und hier werden wir wohl auch bis zu unserem Ende wohnen bleiben", verspricht Hasim. "Obwohl uns der Platz schon wieder zu knapp wird. Wir haben nämlich beide zwei Sachen gemeinsam: Wir sammeln beide gerne. Und wir können beide uns schlecht von Dingen trennen." So sind die Regale und die Wände der großzügigen Wohnung im siebenten Stock mit Erinnerungsstücken gefüllt. "Dies hier ist zum Beispiel unser Küsten-Zimmer", erklärt der Hausherr. Viele Leuchttürme schmücken die Borde und die Wände zieren handgemalte Küstenbilder. Die weiteren Zimmer sind anderen Landschaften gewidmet. Denn neben ihrer Sammelleidenschaft teilen sie noch eine weitere: die Reiseleidenschaft. "Immer wenn wir zurückkehren, brauchen wir neuen Platz für unsere Mitbringsel", gesteht er.

Hasim weiß, warum für ihn so schnell klar war, dass Frauke sehr gut zu ihm passen würde: "Beide wollten wir keine Kinder, kein Häuschen, keinen Garten. Statt für einen Bausparvertrag haben wir unser verdientes Geld lieber für Reisen ausgegeben", erläutert er. "Man muss sich entscheiden", bestätigt Frauke, "entweder hast du Kinder und musst dich um sie kümmern oder du behältst deine Freiheit und kannst dir die Welt ansehen." Gerne ließ sie sich von ihrem Mann zu letzteren überreden. "Es ist wunderbar mit einem türkischen Mann zu vereisen. Nicht nur in der Türkei holt er die besten Preise heraus und weiß die schönsten Plätze zu entdecken. Nein, auch in den anderen Ländern, in Neuseeland, in Portugal, in Australien überall findet er schnell einen Türken, der uns weiterhelfen kann", meint sie verschmitzt.

Hasim erzählt: "Als ich auf Frauke traf, befand ich mich in einer Lebensphase, in der ich einfach ein wenig Ruhe brauchte." Nicht nur sein Ärger mit den bayerischen Behörden war der Grund für diesen Wunsch. "In den Jahren 1976 bis 1980 habe ich meine gesamte Familie verloren." Kurz nacheinander starben seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. "Da blieb bei mir haften: Familie bedeutet Verlust und großen Schmerz. Mein Entschluss verfestigte sich danach noch weiter: Ich wollte meinen Anhang möglichst klein halten. Dass ich dafür die Einsamkeit in Kauf nehmen muss, ist mir bewusst." Hasim, der Individualist, blieb seinem Lebensmotto treu.

Doch wer wüsste besser um die seelischen Nöte, die durch Zwänge, Normen und Konventionen entstehen können, als er? Hasim arbeitete einige Jahre in der psychiatrischen Station des Krankenhauses. Doch dann machte er sich als niedergelassener Psychiater selbständig. "Das geschah nicht ganz freiwillig. Ich musste feststellen, dass ich als Türke im Krankenhaus keine Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten bekam." Eine Beförderung war an die deutsche Staatsangehörigkeit geknüpft. "Natürlich fragt jeder sich sofort, warum ich sie denn nicht einfach beantragt habe. Schließlich lebte ich doch schon fast zwanzig Jahre in Deutschland. Doch durch meinen Ausweisungsbescheid wurden alle meine Jahre in Bayern rechnerisch zu null erklärt und ich musste wieder von vorne anfangen meine Punkte zu sammeln." Heute hat er das wertvolle Papier. "Was war ich froh, dass ich mir eine Ausländerbehörde nie wieder von außen und innen angucken muss!", seufzt er erleichtert.

Als Psychiater bekam er viele Einblicke in die seelischen Bedrängnisse, in die die türkischen Migranten in Deutschland geraten können. Tagtäglich erfuhr er von den Leidensgeschichten seiner Patienten. "Der Mensch braucht Feindbilder, um seine Angst zu kanalisieren. Für die Deutschen sind es die muslimischen Migranten und für die Türken sind die ungläubigen Deutschen." Für die türkischen Patientinnen war der türkische Doktor im weißen Kittel eine Respektsperson. "Ich durfte ihnen Wahrheiten sagen, zu denen wohl kaum jemand sonst den Mut gefunden hätte", meint er. "Ich forderte sie auf, die Strukturen zu hinterfragen, die sie in ihre unerträgliche Zwangslage gebracht hatten."

Er erzählt von einem Beispiel: "Eine Frau kommt mit Migräne zu mir. Vorher war sie schon bei vielen deutschen Ärzten, die mit ihr teure Untersuchungen gemacht haben, die ihr teure Medikamente verschrieben haben, aber ihr nicht helfen konnten. Ich habe ihr nur drei Fragen gestellt: Seit wann sind Sie in Deutschland? Seit wann sind sie verheiratet? Seit wann haben Sie die Kopfschmerzen? Dann war die Diagnose ohne ein technisches Hilfsmittel klar: Der Zeitpunkt aller Ereignisse fiel zusammen. Sie war unglücklich nach Deutschland verheiratet worden und ihr Körper reagierte mit Schmerzen."

Oder eine ältere Frau kommt mit Depressionen zu dem Arzt: "'Ich bin so unglücklich', sagt sie zu mir. ‚Warum denn?' ‚Meine Tochter will heiraten!' ‚Na, dann freuen Sie sich doch!' ‚Aber sie will einen Deutschen heiraten! Die sind schmutzig.' ‚Ich weiß genau, dass sie sich häufiger waschen als wir, gute Frau.' ‚Aber sie essen Schweinefleisch, das ist schmutzig.' ‚Im Schweinefleisch sind weniger Bakterien gefunden worden als in Ziegenfleisch. Das ist wissenschaftlich bestätigt.' ‚Aber er ist nicht beschnitten!' ‚Werden Sie mit ihm ins Bett gehen oder Ihre Tochter. Wenn sie damit kein Problem hat, sollte Sie das auch nicht stören!' Nun gingen der Frau die Argumente aus." Hasim lacht: "So rege ich die Leute gerne zum Nachdenken an." Den Ausspruch "Wir Türken machen das nicht!" ließ er seinen Gesprächspartnern nie durchgehen. "Die Türken gibt es nicht. In jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es andere Traditionen und Gebräuche. Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, der sich aus vielen verschiedenen Einflüssen speist."

Der Doktor verlangte von seinen Ratsuchenden sich nicht an überkommene Bräuche zu klammern, sondern sie immer wieder neu auf ihre Funktion zu überprüfen. "Zum Beispiel die Verwandtschaftsehe: Auf dem Lande diente sie dazu, dass die landwirtschaftlichen Flächen nicht immer weiter zerstückelt wurden und weiterhin das Überleben der Großfamilie sichern konnten. Doch in Deutschland macht sie keinen Sinn mehr, sondern bringt nur die höhere Wahrscheinlichkeit von Missbildungen der Kinder mit sich." Hasim strahlt ein genügend großes Maß an natürlicher Autorität aus, dass er sich solche klaren Worte erlauben konnte. "Ich war für viele von ihnen eine Art Vaterersatz. Ich als einer von ihnen, der es aber in Deutschland weit gebracht hatte, durfte es wagen ihnen solche Ratschläge zu geben."

Hasim hat vor, seine gesammelten Erfahrungen in einem Buch zusammen zu fassen. "Sie dürften die Gesundheitsministerin erfreuen, denn sie sind äußerst kostengünstig. Ganz im Sinne der Kosteneinsparungen der Gesundheitsreform", meint er mit blitzendem Schalk in seinen wachen Augen.

"Früher haben wir gerne Tango getanzt", erzählt Hasim. Nein, einen Tanzkurs hätte er nie gemacht. Er hätte den Tango im Blut. "Fragen Sie mal einen Argentinier, ob er wohl einen Kurs besucht hat!", empört er sich zum Scherz. Gerade kommen sie von einer Reise aus Argentinien zurück. In Buonos Aires hätten sie mittlerweile den Tango lieber beim Zuschauen genossen. Vor fünf Jahren ist Frauke an Krebs erkrankt. Seitdem ist ihre Kondition schnell erschöpft. "Ohne meinen Mann hätte ich meine Krankheit nie durchgestanden", meint Frauke und blickt ihren Mann dankbar an.

Ihre Erkrankung animierte ihren Partner auch zu seinem verspäteten Heiratsantrag. Hasim lacht: "Ich wusste einfach nicht, was ich ihr zu ihrem Geburtstag schenken sollte. Da habe ich einfach zwei Ringe gekauft." Den offiziellen Akt beim Standesamt begingen sie nur mit ihrer Mutter und einem Freund von Hasim. "Das war hinterher sehr lustig. Wir setzten uns einfach unter ein blühendes Mandelbäumchen auf eine Parkbank. Wir hatten eine Flasche Sekt und zwei Pappbecher dabei, von denen einer aber ein Loch hatte", lacht Frauke. "Wir haben uns beim Herumhantieren mit der Flasche und dem einen Becher prächtig amüsiert." Eine Hafenrundfahrt wurde gemacht. "Ich trug den ganzen Tag meinen Brautstrauß so demonstrativ vor mir her, dass ich umsonst fahren durfte und wir sogar eine kleine Ansprache von dem Kapitän bekamen", erinnert sich Frauke gerne.

Die Gäste ihrer Geburtstagsfeier waren sehr überrascht, als sie erfuhren, dass sie eigentlich Gäste auf einer Hochzeitsfeier waren. "Erst in meiner Rede klärte ich sie auf, dass all ihre Geschenke eigentlich Hochzeitsgeschenke seien." Diese Rede nutzte er außerdem dazu, allen Freunden endlich einmal in angemessener Form zu erläutern, was er so besonders an seiner langerprobten Partnerin schätzte: "Sie ist ein wahrhaft guter Mensch. Wo findet man das heutzutage noch?"