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Hamlet, BE

Zur Kritik von

Nachtkritik
Spiegel-online
Tagesspiegel
DLF

Hamlet, Berliner Ensemble


Memme oder Macher?

Hamlet (Christopher Nell) hat einen Auftrag. Der Geist seines Vaters ist ihm erschienen und hat ihm eröffnet, dass er keineswegs eines natürlichen Todes gestorben sondern von seinem Bruder Claudius (Roman Kaminski) ermordet worden sei, damit dieser nicht nur die Krone sondern auch die Königin bekomme. Nun müsse Hamlet ihn rächen. Doch Hamlet zaudert. Über mehrere Stunden lang geht es hier nicht so sehr um die Frage "Sein oder Nichtsein" sondern um die Frage "Memme oder Macher". Letzterer wäre er so gerne. Viele Actionfilme scheint er gesehen zu haben, die ihm seine Heldenvorbilder klar vor Augen führen. Doch er findet immer neue Ausreden. Kommt doch der Auftrag zu einem denkbar unpassenden Augenblick; als der Geist Hamlet erscheint, liegt er gerade mit seiner Ophelia (Anna Graenzer) im Bett. Und: Ist dieser Auftrag vielleicht nicht nur eine Sinnenstäuschung? Kann er seiner eigenen Mutter (Traute Hoess) die Zuneigung zu einem Gattenmörder zutrauen?
Hamlet vertreibt sich und den Zuschauern die Zeit mit Verdeckter-Ermittler-Spielen, doch weniger aus Interesse an der Wahrheit als vielmehr um sein eigenes Zaudern mit Aktion zu überdecken. Er spielt den Verrückten, um dadurch der Tat auf dem Grund zu kommen. Er lässt eine Schauspielertruppe den Mord nachspielen, um eine Reaktion zu provozieren. Die Tändelei mit Ophelia stört den Helden in spe dabei nur und so schickt sie er weg.
Auf der Drehbühne hat Johannes Schütz einen Wald aus Raumecken mit Fenstern und Türen eingerichtet, der für eine permanent bedrohliche und unübersichtliche Stimmung sorgt. Er eignet sich hervorragend für plötzliches Auf- und Abtauchen, verzwickte Verfolgungsjagden, heimliches Belauschen, überraschende Angriffe aus dem Hinterhalt und ständiges Versteckspiel.
Christopher Nell ist ein wahnsinnig guter Hamlet. Ihm nimmt man in jeder Sekunde seine Verwirrung und Verzweiflung angesichts der vor ihm stehenden Aufgabe ab, die einen Helden gebraucht hätte. Der er aber leider nicht ist. Er stolpert von einer Emotion in die nächste, wird von ihnen gelenkt, bis er aus reiner Hilflosigkeit zu einem Amokläufer wird. Zufällig hat er den lauschenden Polonius (Norbert Stöß) ermordet, ganz ohne Vorsatz, aus einem Affekt heraus. Seine Beißhemmung scheint überwunden: Mit der Waffe in der Hand, mit dem Blut an seinen Händen weidet er seinen Zufallstoten aus. Ihm ist jetzt alles zuzutrauen, so scheint es. Doch dann, als er tatsächlich zur eigentlichen Tat schreiten soll und den Mord an Claudius rächen soll, ergreifen ihn wieder neue Zweifel und er schrickt erneut zurück.
Regisseur Leander Haußmann nutzt den Shakespeare-Stoff in allen Facetten aus, um wieder einmal ein richtiges Theaterspektakel auf der Bühne des Berliner Ensembles zu entfachen. Er spart weder mit Theaterdonner, Theaterblut, Musik- und Lichteffekten noch einer immer drehenden Drehbühne. Haußmann greift geschickt in die große Theatertrickkiste. Doch an manchen Punkten geht er noch weiter; wenn er z.B. die Personen immer mal wieder ein Hollywood-Tänzchen oder einen Song einspielen lässt. Da merkt man seine Lust am Spiel, die nichts ungenutzt lassen kann. Ein paar seiner zahlreich überschießenden Ideen hätte er sich ruhig fürs nächste Mal aufsparen können. Doch immer wenn der Gedanke im Zuschauer aufkommen könnte, jetzt übertreibt er aber, kriegt er die Kurve und ist wieder hochkonzentriert bei seiner Lesart des Textes.
Erst als Hamlet zum Schluss aussteigt, bringt er die Drehbühne mit seinem Fuß zum Stillstand. Der Fall hat ein Ende, hoffentlich haben die Zuschauer die Botschaft verstanden. Grausamkeit ist nur erlaubt, wenn sie zu keinen weiteren Grausamkeiten führt. Das ist eindeutig im Falle Hamlets nicht gegeben. Am Ende fast nur noch Tote auf der Bühne.
Schon zu Beginn umschwirrten Hamlet die Engel. In Gestalt von Apples in Space umflirren sie ihn und den Geist seines Vaters mit ihren süßen Gesängen zu Gitarre und Akkordeon. Denn: Death is not the end! Mit dieser Trost spendenden Botschaft endet der Abend mit einem erschöpften und immer noch ratlosen Hamlet.
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Birgit Schmalmack vom 19.10.16

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