Sie sind hier: Lichthof
Weiter zu: HH-Theater I-S
Allgemein: Spiegelneuronen, Kampnagel KEIN SCHÖNER SCHLAND, Hf MT IM CABARET, AU CABARET, TO CABARET, HfMT Eigengrau, Sprechwerk Der alte Mann und ein Meer, HfMT Zu Schad, Tonali A PLACE CALLED HOME, Kampnagel Ocean cage, Kampnagel Der eigene Tod, DSH Gesetze schreddern, Malersaal

Jesse James oder was der Kommunismus war, Lichthof

Die enttäuschten Kinder der Revolution



"Der Real-Sozialismus ist nicht das, was ich mir unter dem Kommunismus vorstelle. Vielleicht brauchen wir einfach einen neuen Begriff?" Die Frage stellt Linda Jiayun Gao-Lenders am Ende des Abends in den virtuellen Raum.
Drei junge Menschen haben sich auf der Bühne des Lichthof-Theaters ihre Gedanken über "Jesse James oder was der Kommunismus war" gemacht. Sie haben zwar keine eigenen Erfahrungen mit dem Kommunismus, aber ihre Väter. Alle drei sind Kinder von Kommunisten oder aus kommunistischen Ländern Geflüchteten. Der Western-Held "Jesse James" kommt nur mit ins Spiel, weil einer der Väter sein Kind nach ihm benennen wollte, doch dann wurde eine Tochter geboren. Die drei Performenden (Shahab Anousha, Linda Jiayun Gao-Lenders, Janis Jirotka) rekonstruieren auf der Bühne drei Lebensgeschichten, indem sie viele Zettel, kleine und große, bedruckte Din-A4-Seiten und hunderte von handbeschriebenen Klebezetteln auf den Stelltafeln und an ihren Schreibtischen bewegen und in immer neuen Konstellationen vortragen oder ablesen. Die Performenden spielen mit der Vorstellung, dass die Ausgewanderten ihre eigenen Väter sein könnten, da sie auch immer wieder Passagen in ihrer eigenen Erstsprache einfließen lassen. Dennoch wahren sie mit ihrer Vortragsform stets die Distanz.
Wie die Väter aus dem Iran, aus der Tschechoslowakei und aus Vietnam nach Deutschland kamen und hier mit dem neuen System zurechtkommen mussten, versuchen sie zu verstehen. Wie der iranische Vater davon überzeugt blieb, dass eine Revolution nötig sei, so lange der Klassenfrage nicht geklärt wäre. Wie der tschechische Vater in Kanada zum Unternehmer wurde und nach seiner Pleite Selbstmord verübte. Wie der vietnamesische Vater sich in der deutschen Leistungsgesellschaft klein machte und unauffällig einpasste. Ihre Leitfrage dabei ist: "Wie ist es als Kommunist im Kapitalismus zu leben?"
Die gestreamte Aufführung dokumentiert einen sorgsamen, vorsichtigen Forschungsprozess, der sich an die Fakten halten und den Vätern auf jeden Fall gerecht werden will. Den Kapitalismus als konkurrenzloses, alternativloses System stehen zu lassen, das wollen sie auf keinen Fall. Wie hatte doch einer der Väter gesagt: "Die Zukunft gehört euch!" Bis diese "Kinder einer enttäuschten Revolution" jedoch zu ihrer eigenen Vorstellung von einer gerechteren Gesellschaft kommen, ist viel Zeit auf dem Playbalken verstrichen. Wie diese aussehen könnte, bleibt am Ende dieser theatralen Forschungsreise offen. Die Frage danach reicht dieses Projekt im Rahmen der "Start off"-Reihe am Lichthof, an dessen Konzept neben den Performenden auch Reyhaneh Scharifi und Nguyễn Quốc Tuấn mitgearbeitet haben, einfach an die Zuschauer:innen weiter.
Birgit Schmalmack vom 24.5.21

Abbildung: Jesse James.... im Lichthof - © Emma Szabo´

Gehe zu: Nerven. Lichthof Der Wald, Lichthof