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Vorgezeichnete Lebensbahnen
Der Mensch hat siebzig oder, wenn es gut läuft, achtzig Jahre Lebenszeit zur Verfügung. Was macht er nun daraus? Auf den immer gleichen Bahnen dreht er seine Runden, so gleichförmig getaktet wie die Zeiger einer Uhr. Selten verlässt er die wohl vertrauten Wege. Auch wenn er enttäuscht von ihren Verläufen ist, scheut er das Risiko einer Veränderung.
So ernüchternd fällt Ingrid Lausunds Blick auf das Phänomen „Zeit“ in den Hamburger Kammerspielen aus. Beatrix von Pilgrim hat einen Kreis auf die Bühne gebaut, dessen Radien nach hinten hin immer kürzer werden. Etwa eine Viertelstunde des Lebens wird so sichtbar, der Rest ist hinter den schwarzen Tüchern verborgen. Diese Form bedingt, dass nur Ausschnitte von Lebensgeschichten gezeigt werden.
Der hektische Businessman (Christian Kerepeszki) auf der äußersten Umlaufbahn hat so viel in seinen eng getakteten Tagesplan unterzubringen, dass er dafür am meisten Weg und Zeit zur Verfügung gestellt bekommt. Die Wissenschaftlerin (Hildegard Schroedter), die neben ihm ihre Runden zieht, gerät trotz zweitlängster Bahn und vermeintlich ausreichender Zeitbudgets immer wieder in Stress. Sie versucht vergeblich ihre akademischen Ziele mit Zeit für Muse und Genuss zu verbinden. Die Belohnungen mit einem Eis, einem Blumenstrauß, einem Kinobesuch liefern nicht die Befriedigung, die sie ihr verheißen. Die Nächste ist im Dauerstress. Die berufstätige Hausfrau und Mutter (Imke Trommler) führt ein Leben für andere. Mal Neinsagen zu können ist ein Vorsatz, der bis zum Schluss für sie unerreicht scheint. Auf der vierten Bahn kreist sich eine Singlefrau von twenty-something (Verena Ehrmann) um sich selbst. Angesichts der vielen Möglichkeiten fällt ihr die Entscheidung so schwer, dass sie in Untätigkeit verharrt. Der Letzte (Max Landgrebe) braucht am wenigsten Zeit und hat am meisten. Er verfolgt konsequent das Motto „Carpe Diem“. Er versucht sein Leben zu genießen, sich keinem Zeitdiktat zu unterwerfen und nimmt dafür in Kauf, dass er in die Position des Dauerwartenden gerät, denn der Zeitplan seiner Freundin gleicht eher dem Karrieristen auf der ersten Umlaufbahn.
Lausund gönnt nur einer Person auf der Bühne eine Entwicklung. Die Wissenschaftlerin fängt erst bei der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit ganz in der Gegenwart zu leben und die Momente des Jetzt zu genießen.
Lausund mutet ihren Zuschauern eine deprimierende Sicht auf das Leben zu. Das ist ebenso gut beobachtet wie komplett ernüchternd. Dramaturgisch gesehen bedeutet dass sich die Langeweile des Alltags sich direkt auf die Zuschauer überträgt. Man hätte sich, mehr Ausbrüche, mehr Variation und mehr Interaktion zwischen den Personen gewünscht. Lausund wollte anscheinend den unbedingten Drang bei den Zuschauern nach Veränderung nicht durch Vorwegnahme auf der Bühne abmildern.
Birgit Schmalmack vom 17.5.12
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