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Ivanow, Schauspielhaus

Gähnende Langeweile



Die Menschen kippen vor Langeweile und Müdigkeit von den Bänken, fallen auf den Boden oder schlafen im Stehen ein. Nichts im Leben kann sie mehr begeistern, für nichts lohnt sich ein Engagement. Einzig das Vergnügen bringt sie kurzfristig in Stimmung. Dafür ist jeder Anlass recht. Schon geht das rote Partylicht an und die Menschen zucken im Boom-Boom der Musik vor sich hin. Beziehungen, Kommunikation, Kontaktaufnahme, Fehlanzeige. Nur so lange die Musik zu hören ist, geraten sie in Bewegung, danach sinken sie wieder in sich zusammen. Zwei allerdings hier auf der schwarzen (natürlich) leeren Bühne mögen sich dieser Illusion nicht hingeben. Ivanow (David Striesow) fragt sich in einer Tour, warum er so traurig und antriebslos ist, wo er doch sonst vor Energie und Projekten nur so strotzte. Doch Sasa (Josefine Israel) weiß genau, warum. Die Wut der jungen Frau reicht für beide. Sie erkennt in Ivanow einen Verbündeten im Geiste und will ihn retten. Sie wütet gegen die Banalität des Lebens in dieser russischen Ödnis und will ein neues Leben anfangen, und zwar in Amerika.
Man bekommt auf der Bühne in dieser über dreistündigen Inszenierung viel zu sehen. Das Ensemble ist mehr als grandios. Jeder der Schauspieler:innen liefert eine kleine Schauspielersoloshow auf der leeren Bühne. Keine:r braucht irgendein Requisit. Alle stehen für sich selbst. Bastian Reiber ist das vor Ideen strotzende Energiebündel, das seinen Chef Ivanow endlich aufrütteln will und dabei ADHS-mäßig im Dauerzappelmodus ist. Eva Matthes schleppt emsig ihre riesigen Stachelbeerkonfitüre-Gäser auf die Bühne, an denen sie sich neben ihren Geldbündeln festhält. Ihr Mann (Matthias Wittenborn) nutzt dafür eher die Schnapsgläser, die ihm die Leere seines Lebens versüßen sollen und bleibt dabei dennoch sehr scharfsinnig.
Samuel Weiss ist der wütende Arzt, der in einem Dauerkopfschütteln versucht die Moral hochzuhalten und dabei scheitern muss. Ernst Stötzner gibt den komischen Alten mit viel weiser Ironie. Angelika Richter, die todkranke Ehefrau von Ivanow, irrt als lebensgieriger Geist im Morgenmantel durch die Gegend und versucht noch ein Stück vom vermeintlichen Leben zu erhaschen, bevor sie abtreten muss. Lina Beckmann scharwenzelt als reiche Jungfer durch die Partygesellschaft, in der Hoffnung, auf ihre alten Tage doch noch einen Mann abzubekommen, und sei es der komische Alte, der sie aber immerhin zur Gräfin machen würde.
Vordergründigkeit, wohin man blickt, wenn auch bei diesen Schauspieler:innen immer mit der Ahnung der eigenen Bedeutungslosigkeit unterfüttert. Das ist aller sehr klug, genau beobachtet und mit allen Zwischentönen gespielt. Und doch: Irgendwo hat man dies schon einmal gesehen, wenn man in den letzten Jahrzehnten in den Theater dieser Republik gesessen hat. Allerdings selten mit so perfekten Ausgestaltung der Langeweile und Leere. Karin Beiers Ansatz für ihre Interpretation von Ivanow, dem ersten und für ihn wichtigsten Stück von Tschechow ist zwar schlüssig, aber in ihren Anregungspotential und Erkenntnisgewinn von eher geringem Mehrgewinn. Die Analyse der jetzigen gesellschaftspolitischen Stimmung ist wohl eine andere. Ihrer Lethargie und Ziellosigkeit liegt eher eine Überforderung zu Grunde als eine Überdrüssigkeit und Vergnügungssucht. Insofern nervt und irritiert die Langeweile der Menschen auf der Bühne und erzielt möglicherweise deswegen genau den ricjhtigen Impuls: Es keinesfalls diesen Scheintoten gleichzutun sondern aufzustehen und die Probleme der Zeit anzugehen. Also doch das Aufrüttlerstück zur Gegenwart?
Birgit Schmalmack vom 25.4.22

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