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Der Tod in Venedig, Thalia

Der Abgrund war das Ziel


"Thomas?" "Ich!" "Nein ich." Gleich viermal steht Thomas Mann auf der Bühne. Dargestellt von vier Frauen (Sandra Flubacher, Karin Neuhäuser, Oda Thormeyer, Victoria Trauttmansdorff) in völlig identischen grauen Anzügen mit Brille und Schnauzer, das graue akkurat geschnittene Haar zurückgekämmt. Sie geraten in eine Diskussion darüber, um wen es hier gehen soll. Um Thomas? Aber nein, das wäre zu platt, lieber um Johann, um Erich, um Gustav! Um einen Künstler. Einen Maler, einen Komponist, nein besser einen Schriftsteller.
Die ersten Sätze landen auf dem Papier, in diesem Fall auf der Bühnenrückwand. Thomas Mann ist bei der Arbeit. Noch überwiegt die Abwägung, der Verstand und die Vernunft. Denn dieser Schriftsteller, bei dem bald die Grenzen zwischen Thomas und Gustav verschwimmen, ist ein Mann der Disziplin und der Enthaltsamkeit. Die Anmut der Qualen ist für ihn die wahre. Das Exsesshafte eines Künstlers ist ihm fremd. Doch dann merkt er, dass ihm etwas fehlt. Vielleicht darf er sich eine Reise zur Wiederherstellung seiner Schaffenskraft erlauben? Das Ziel zunächst völlig unklar. Auf der Reise, die die vier Herren jetzt antreten, landet er in Venedig. Auf der Bühnenrückwand erscheinen die Menschen, auf die er dort trifft, verkörpert durch eben dieselben vier Schauspielerinnen, die auch Gustav verkörpern. Der Maske sei dank. Der Herr logiert wie immer im Grand Hotel. Noch strahlt er Überlegenheit aus, alles unter Kontrolle. Doch dann begegnet einem Jungen von gottähnlicher Schönheit, Tadzio sein Name. Diesem disziplinierten Schriftsteller, dem Zucht bisher alles war, erscheint die Zügellosigkeit plötzlich als mögliche Alternative. Könnte dieses Gottesgeschöpf ein Ausdruck der Vollkommenheit Gottes sein? Bedarf es dann nicht seiner Aufmerksamkeit? Ist seine Sehnsucht nicht Ausdruck einer Ahnung, dass Fühlen wichtiger als Erkenntnis sein kann?
Doch dann machen sich in Venedig Zeichen der Verunsicherung breit. Desinfektionsmittel wird überall versprüht. Offizielle Meldungen Fehlanzeige, doch Gerüchte raunen von einer Seuche. Selbst als Gustav sicher weiß, dass es besser wäre abzureisen, entscheidet er sich fürs Bleiben. Er weiß inzwischen: "Der Abgrund war das Ziel."
Er machte sich auf Tadzio zu folgen, ins Ungeheuere.
Regisseur Bastian Kraft hat für diesen Text von Thomas Mann, der, wie es an einer Stelle heißt, "auch missverstanden werden könnte", eine Umsetzung gefunden, die die perfekte Balance zwischen Ernst und Übertreibung hält. Kraft schafft es einerseits die Lebenshaltung, die Fragestellung und den Gefühlshaushalt seiner Hauptperson ganz ernst zu nehmen und dennoch in der klischierten Darstellung der Nebenfiguren einen riesigen Spaß am Spiel zu entwickeln. Und das alles mit den selben vier grandiosen Schauspielerinnen, die dafür sorgen, dass der Abend ein Erlebnis ist. So kommt in dieser bewussten Kontrastierung ganz beiläufig eine Kritik an der Realitätsferne dieses deutschen Schriftstellers zum Ausdruck, der sich zwar im Besitz der intellektuellen Lebens-Wahrheit glaubte und sie doch nie durchlebt, durchfühlt und durchlitten hatte. Eine Haltung, die dem deutschen Wesen auch heute bisweilen nachgesagt wird.
Birgit Schmalmack vom 18.1.22

Abbildung: Der Tod in Venedig - Foto: Krafft Angerer

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