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"R-Faktor. Das Unfassbare", Thalia

Aufklärung im Showformat


Victim-Blaming, Täter-Öpferumkehr, Othering, Tokenisierung, Exotisierung - wem diese Begriffe noch nichts sagten, ist nach dem Abend „R-Faktor. Das Unfassbare“ schlauer. Da mit Musik bekanntlich alles besser geht, werden sie bei der Erklärung sogar mit dem passender Melodie unterlegt. Dabei geht es um das Unfassbare, in doppelten Sinne: Kaum zu glauben sind die Gesichten, die hier vorgeführt werden. Sie handeln alle von dem Umstand, der gerade in Deutschland so schwer zuzugeben ist. Denn hinter dem R im Titel steht nichts anderes als Rassismus. Und zwar in einem Feld, das der Toleranz, Offenheit, der Bildung und der kritischer Haltung verpflichtet sein sollte: im Theater, im Film und in der Kunst. Doch alle Geschichten zeigen: In Deutschland ist auch in diesen hehren Kulturfelder die deutsche weiße Gesellschaft noch weit entfernt von der viel beschworenen „Vielheit“. Dabei hieß es doch 2017 in vielen Kulturhäusern so schön: „Wir sind viele“. Mit diesem Slogan auf goldenem Hintergrund schmückten sich nahezu alle Kulturinstitutionen. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Weit davon entfernt.
Was als Rateshow beginnt, wird zu einer Lehrstunde, die ihren Aufklärungscharakter bald nicht mehr verbergen kann. Lässt die Moderatorin (Safak Sengül) im Glitzerjackett anfänglich ihre Zuschauer:innnen noch raten, welche der Geschichten, die auf der Bühnenrückwand des Fernsehstudios gezeigt werden, wohl wahr und welche Fiktion sei, so offenbart sie wenig später: Klar, alle seien leider die pure Realität. Sie selbst schlüpft in den Filmeinspielern gleich in alle Rollen. Sie wird zu den Juror:innen, zum Regisseur, zu den Kolleg:innen, zum Intendanten, zur Schulleiterin.
Doch das Gezeigte ist auch deswegen unfassbar, weil es nie zugeben wird. Genau das macht die Analyse und die Veränderung so schwer. Die Ableugnung des Problems wird zum eigentlichen Problem. „Wir haben schon eine Bewerberin mit türkischen Migrationshintergrund.“ „Bin ich keine Deutsche, zählt nicht meine Leistung?“, fragt sich da nicht nur die Aspirantin auf den Platz an der Schauspielschule. Deshalb wählt dieser Abend trotz aller glitzernden Showfassade deutliche Worte. Und scheut sich nicht pure Aufklärung zu betreiben, auch auf die Gefahr hin belehrend zu wirken. Dem Theaterpublikum soll die Augen geöffnet werden. Denn auch hier ist die Vielfalt, die so hochgehalten wird, noch lange nicht sichtbar. Der Abend beruht auf Interviews, die die Regisseurin und Autorin Ayşe Güvendiren mit betroffenen Kolleg:innen geführt hat. Das ist die deutsche Wirklichkeit, die es nicht zu beschönigen gilt. Deswegen ist genau dieser Abend wohl genau in dieser Form notwendig.
Birgit Schmalmack vom 4.11.21

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