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Isson, cie.toula limnaios

Eine Frage der Identität



Hochaktuell sind die Fragen dieses Stücks. Dabei ist es von 2003. Oder vielleicht eher zeitlos? Damals war es ein Stück für zwei Frauen, 2021 hat die Choreographin Toula Limnaios mit zwei Männern (Leonardo D’Aquino, Alessio Scandale) entwickelt.
Was bedeutet es, wenn man ständig jemand anderen an seiner Seite hat, der einem komplett gleicht? Ist es eine Unterstützung, eine Vergewisserung des eigenen Seins oder ist es eine Einschränkung und Limitierung der eigenen Individualität? Wird die eigene Identität dadurch verstärkt oder beschränkt? Gibt es überhaupt ein eigenes Selbst, wenn jemand existiert, der alle Bewegungen imitiert? Braucht es nicht zur Entwicklung der eigenen Identität die Einzigartigkeit der Persönlichkeit?
In zwei getrennten Bühnenräumen befinden sich die zwei Männer auf der Bühne. Zu Beginn mit dem Rücken zum Publikum. Auch ihre Anzugsjacken tragen sie mit dem Ausschnitt nach hinten. Ritualisierte Bewegungen führen sie aus, völlig synchron. Dabei würdigen sie sich keines Blickes. Absprachen sind nicht notwendig. So vorgezeichnet scheinen ihre Tätigkeiten und Wege. Die Freiheit zu individuellen Entwicklung scheint in diesen Lebenswegen im uniformierten Outfit nicht vorgesehen zu sein.
So gleichförmig die Bewegungen der Männer sind, so aufregend ist die Musik von Ralf Ollertz. Denn beide Kunstelemente, die der Choreographie und die der Komposition stehen in "Isson" völlig gleichwertig nebeneinander. Wenn die Männer auf der Bühne zum Stillstand ihrer Gleichförmigkeit gekommen zu sein scheinen, erzeugt die Musik eine dramatische Spannung, durch die Einbindung von Alltagsgeräuschen wie Reifenquietschen, Zugegrummel, Zirpen, Knallen, Flugzeugdröhnen. Wenn die Männer jedoch auf dem Boden absoluter Gleichzeitigkeit mit ihrem Bodenkissen herumspielen, es mal hierhin und mal dorthin schieben, sich zur Ruhe entspannt zur Ruhe begeben, unterstützt die Musik sie in dezenter Zurückhaltung.
Ein einziges Mal dürfen die beiden Männer kurz in Eigenregie austoben. Ironischer Weise genau in dem Moment, wo ihnen die Lichtregie nur ein kleines beleuchtetes Quadrat auf der ansonsten dunklen Bühne zuteilt. Auf einmal fangen sie an zu tanzen. Sie werfen die Beine hoch, sie drehen sich rasant um sich selbst und nutzen den so beschränkten Raum mit all der Kreativität aus, die sie die ganze Zeit zuvor unter ihrer Gleichförmigkeit verstecken mussten. Sobald ihr erleuchteter Einzelraum erloschen ist, werden sie sekundenschnell wieder zu perfekten Doppelgängern. Ununterscheidbar. Das Ausleben der eigenen Persönlichkeit bleibt dem Rückzug in die Privatheit vorbehalten.
Der berührendste Moment folgt am Ende. Mittlerweile haben die beiden Männer ihre Anzugshosen abgestreift und tragen nur noch ein schwarzes Unterhemd zur schwarzen Hose. Sie stellen sich direkt vor die erste Zuschauerreihe und scheinen schrittweise zu verkümmern. Von Minute zu Minute scheint das Leben aus ihnen herauszufließen. Sie nehmen immer verkrampftere Haltungen ein, krümmen sich seitwärts, versuchen irgendwie Hat zu finden und strahlen doch in jedem Moment die Vergeblichkeit aus. Ihr Leben der perfekten Doppelgängerschaft, der absoluten Gleichheit geht dem Ende entgegen, und zwar begleitet von dem Gefühl, es gar nicht richtig ausgelebt zu haben. Die Entwicklung der eigenen Identität blieb zugunsten der Sicherheit der Anpassung eine Leerstelle. In Zeiten, in denen die Individuelle Entfaltung zum Lebensziel erhoben wird, führt diese Choreographie eindrucksvoll vor Augen, was geschieht, wenn Menschen in uniformen Verhaltensmustern gefangen sind. Und dennoch: Das Leben in einer Gesellschaft wird sich immer zwischen diesen Polen bewegen: Teil einer Gemeinschaft zu sein und dennoch Raum für die Selbstentfaltung zu finden.
Birgit Schmalmack vom 22.7.21

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