Gefangen im Netz
In seinen Winkel hat er sich zurückgezogen, der 40-jährige Außenseiter. Direkt in den spitzen Winkel seines Kellerlochs in den Außenbezirken St. Petersburgs hat er sich verkrochen und treibt seine gesellschaftsuntergrabenden Analysen der menschlichen Spezies zu immer neuen Kapriolen. Der Möchtegern-Querdenker versteht das Handwerk der Dialektik gut, aber verstrickt sich dabei so in den Windungen seiner eigenen Denkspiralen, dass er darin stecken bleibt. Er findet, der Mensch sei ein ganz besonderes Tier. Er könne nicht nur denken sondern auch fluchen. Das tut der 40-Jährige ausgiebig. Er hält es für ein Zeichen seiner Lebendigkeit. Er kann sich eben noch aufregen über die Verhältnisse. Er will sich nicht reduzieren lassen auf seinen Verstand. Er fürchtet nach der kompletten Dechiffrierung des menschlichen Gehirns sei das Leben nur noch Mathematik. Dem verweigert er sich im Vorwege. Er besteht auf seinem freien Willen, der ihn zum Unsinn, zum Ausbruch und zum Widerstreit berechtigt. Nach der Pause ein Blick in seine Vergangenheit: Als er 15 Jahre zuvor auf die Prostituierte Liza traf, bekamen alle seine widerstreitenden Gedankenirrrungen und –wirrungen kurzfristig ein Gegenüber. Er benutzt Liza für die Befriedigungen seiner Triebe und seiner Machtgelüste. Er spielt mit ihr. Indem er ihr ihre derzeitigen düsteren Lebensperspektiven und demgegenüber die Schönheiten einer Kleinfamilie ausmalt, lässt er auf den weißen Wände Bilder eines glückliches Pärchen entstehen. Er ist so überzeugend, dass nicht nur Liza sondern fast auch er selbst darauf hereingefallen wäre. Zum Schluss ist er wieder alleine in seinem Kellerloch. Er hält eine imaginäre Knarre in der Hand. Er malt sich aus, was es geben könnte, wenn alle diese Männer, die sich wie er im Untergrund ihre umstürzlerischen Gedanken machen, hervorkommen würden. Doch dann muss er zugeben: Noch mehr Worte! Ingrun Aran hat im kleinen Theater unterm Dach eine behutsame Aktualisierung des Romans Dostojewskijs vorgenommen. Die Videoprojektionen auf den weißen Bühnenraum lassen ahnen, womit dieser Stadtneurotiker heute seine Zeit verbringen würde: mit Chatten, Sexseiten und Online-Spielen. Seine einsamen Machtfantasien lebt er als vor Waffen strotzende Kampfmaschine aus. Im Gegensatz zur Zeit Dostojewskijs kann er seine Illusionen der eigenen gesellschaftlichen Bedeutung noch perfekter ausmalen. Sein Kellerloch umgibt den Schein der großen weiten Welt des worldwidewebs. Ilja Pletner kann alle Facetten dieses Egotrippers zeigen. Sein Unsicherheit, seine Wut, seinen Größenwahn, seine Angst, seine Überheblichkeit, seine Unterwürfigkeit, seine Schwachheit, seine Intelligenz, seine Sprachgewandtheit und seine Kompromisslosigkeit. Unter seiner behaupteten Boshaftigkeit schimmert die verleugnete Sehnsucht nach Beziehung und Anerkennung durch. Iris Boss ist ihm ein adäquates Gegenüber, das bei aller Verletzlichkeit auch Stärke zeigt. In einem letzten Zweikampf vor ihrer Trennung übernimmt sie allmählich die Regie über seine Bewegungen. Diese Frau erkennt, dass dieser Mann zwar klug zu reden vermag, aber über keinerlei emotionale Intelligenz verfügt. Diese dichte, intelligente und bewegende Inszenierung sollte man unbedingt besuchen. Sie zeigt, um wie viel ärmer und weniger sexy eine Kulturstadt ohne kleine private Bühnen wie diese wäre. Birgit Schmalmack vom 12.4.12
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