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Eine graue Bahnhofshalle mit zwei grauen Bahnhofswärtern (Samuel Weiss und Magne Håvard Brekke), drei Bänken und drei jungen Damen (Fee Aviv Dubois, Josefine Israel, Sasha Rau) mit Hut und Handtasche. Einzig der Herr am Klavier (Bendix Dethleffsen) scheint ab und zu an den eigentlichen Zweck eines Bahnhofes zu denken, dann hektisch seine Siebensachen zusammenzuraffen und zum Zug zu eilen. Doch ebenso schnell ist er wieder zurück. Fahren hier schon gar keine Züge mehr? Sind die Zuggeräusche, die hin und wieder herüberschallen, eventuell nur Attrappen? Sind die Wärter, die dann ihre Trillerpfeifen in die Hand nehmen und die Signale ertönen lassen, vielleicht nur Teil eines Museumsprojektes?
"Sollte die Zukunft so mächtig wie das Vergangene sein, welche Aussicht wartet dann?" So fragt sich dieser Abend von Christoph Marthaler im Malersaal mit der Dichterin Emily Dickinson. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit schon genug an Erfahrung, Erkenntnis und Ahnung gesammelt, die uns auch für die Aussicht auf die Zukunft hilfreich sein kann, wenn wir uns nur genügend Zeit nehmen würden, um sie auf uns wirken zu lassen?
Marthaler ist ein Genie der Verlangsamung, der Entschleunigung und der Würdigung des Kleinen, gerne Übersehenen. Ohne Geschichten zu erzählen, schafft er es, eine Atmosphäre der Skurrilitäten im Alltäglichen entstehen zu lassen. So prallen die Gedichte von Dickinson auf die Vorschriften der Bahnwärter. Während die eine über Liebessehnsucht, Einsamkeit und Selbsterkenntnis nachsinnt, rattern die beiden anderen ihre Listen von Bremsklötzen, Weichenstellungen und Lichtsignalen herunter. Dabei versenken die Damen eines ihrer bestrumpften Beine in einem der Papierkörbe, krabbeln alle fünf auf und unter die zwei Bänke in der Mitte, tauchen alle in einer der Wärterkabinen langsam ab und wieder auf oder laufen die beiden Männer aufeinander zu, keiner gewillt dem anderen aus dem Weg zu gehen. Wie sie sich minutenlang den Weg streitig machen, bis sie umeinander herumbugsieren, ist ein kleines Theaterstück am Rande. Von denen es an diesem Abend viele zu beobachten gibt. „Ich lebe in der Möglichkeit. Ihr Haus ist im Vergleich viel schöner, tür- und fensterreich, als die Alltäglichkeit.“ So formuliert es Emily Dickinson. Das passt auch für Marthaler und sein Team. Seine Inszenierung ist viel schöner und türreicher als die schnöde Wirklichkeit. Sie eröffnet Fenster in Vorstellungen, die über das Alltägliche hinausgehen und sei es auch nur, indem sie das Alltägliche zu einem bestaunenswerten Wunder erhebt.
So spricht die Poesie mal aus dem Lüfter und mal aus der Handtasche. Wir müssen nur wieder das Hinhören und Hinschauen üben und erlernen. Denn auf diesem Bahnhof herrscht keine Hektik. Ganz im Gegenteil, hier verharren die Menschen in einem Zustand der Zwischenzeit, untermalt von zarter Musik von Mozart über Liszt bis zu den Pointer Sisters, mit Singen und Summen, Lachen und Zaudern, Trillerpfeifen, Metronom und singenden Papierkörben und Handtaschen. Ein stiller, zarter Abend, der ganz ohne Spektakuläres auskommt und damit perfekt zu den Werken einer Dichterin passt, die erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurden.
Birgit Schmalmack vom 5.12.23
Abbildung: Im Namen der Brise, DSH - Matthias Horn
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