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Aus der Zeit gefallen
Ein leeres Theater, in dem ein blutendes Kleid die Hauptrolle spielt. Ein Theater des Schweigens, in dem das Geschrei des Marktes Ruhe gibt. Ein Theater, in dem die erste Bürgerpflicht – die Verdrängung des Todes – aufgehoben ist. So ein Theater wollte Heiner Müller. Der Regisseur Dimiter Gotscheff hat versucht, es ihm posthum im Thalia in der Gaußstraße mit einer Sammlung seiner Texte zu erschaffen. Es ist ein Theater entstanden, das sich gängigen Formen widersetzt.
Statt Museums- sollte Werkstattatmosphäre vorherrschen. Am langen Tisch sitzen die Schauspieler, vor sich ausgebreitet Schriften, Bücher, Bilder, Andenken und jede Menge Reinigungsmittel.
Begonnen hatte der Abend mit einem kleinen Tischfeuerwerk zu Ehren des Mauerfalls. Doch es war schnell abgebrannt, denn die Wende läutete die Schriebkrise Heiner Müllers ein. Plötzlich fehlten ihm der Antipode und die Alternative; die Marktbeherrschung des Kapitals lähmte ihn. So arbeitete er sich an der Schaffenskrise eines anderen Autors, des Historiker Mommsens ab. Barbara Nüsse rezitiert still am Tisch sitzend die Analysen und Elegien Müllers in seinem Langgedicht „Mommsens Block“.
Zum Glück blieb es nicht so statisch. Alexander Simon erzählt höchst lebendig von der absurden Geschichte, in der den ein Mann von seinem toten Chef einen mysteriösen Auftrag erhält, der die Definition von Zeit und Ort aufhebt und ihn in die Wüste katapultiert. Marina Galic wird zu Ophelia. Oda Thormeyer findet die tote Ehefrau, deren letzter Selbstmordversuch endlich erfolgreich war. In der Pause prosten sich Hitler (Patrycia Ziolkowska) und Stalin (Oda Thormeyer) im Foyer mitten zwischen den Zuschauern mit Sektgläsern zu, während sie ihre geschichtliche Bedeutung anhand der Zahl ihrer Toten abmessen.
Dieser überraschende Szeneneinfall leitet zu einer stärkeren zweiten Hälfte über: Galic spricht den Monolog der Elektra aus dem „Hamletmaschine“ als hingehauchte One-Women-Show am Mikro. Ziolkowska läuft zu Höchstformen auf, als sie sich in „Herakles 2 oder die Hydra“ aufmacht, um ein Tier zu töten, doch auf dem Weg dorthin vom Wald überwältigt wird. Dabei steht sie fast bewegungslos auf einem Zettelstapel und durchschreitet doch einen ganzen Wald an Lebenserkenntnissen.
Heiner Müller verleugnete den Tod nicht. Ganz im Gegenteil: Er steht im Zentrum seiner Überlegungen. Er wird ihm zum Ziel, zum Antrieb, zum Gegenpol, zum Vertrauten. Die Menschen werden klein angesichts des übermächtigen Beenders aller Aktivitäten. Das Eingezwängtsein des Menschen in etwas Undurchschaubares bleibt auch im Zentrum aller Szenen, die Gotscheff zu Ehren Heiner Müllers zusammenstellte. Gotscheff setzt mit seinem Abend einen unzeitgemäßen Kontrapunkt gegen die hektische Eventkultur, die von Zeit zu Zeit auch in das Theater einfällt, und findet so eine angemessene Form für die ebenso aus der Zeit gefallenen Texte Müllers.
Birgit Schmalmack vom 4.3.13