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Melissa kriegt alles, DT
Against the record, HAU 1
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Salon 89, Sophiensäle
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Bridge Markland + Gäste: queens + kings, AHA
The elephant in the room
Das Problem, das stets präsent ist, aber nicht benannt wird, nennt man im Englischen "the elephant in the room". Für den Jungregisseur Moritz Hauthaler war dieser Elefant stets der frühe, ungeklärte Tod seines Vaters. Doch mit dem Verschweigen ist für ihn nun Schluss: In seiner Abschlussarbeit widmet er diesen Fragen nun gleich ein ganzes Theaterstück. Mit seinem Team studiert er die angeforderten Akten gründlich und stellt fest: Die Wahrheit gibt es nicht. Die Faktenlage ist diffus. Dennoch versucht er auf der Bühne eine Rekonstruktion der Ereignisse. Das Haus wird auf google earth gesucht. die Umgebung in Realität abgefahren. Auf der Bühne wird das Wohnzimmer samt Küche nachgebaut. Aus den 2D-Stellwänden werden sie von den zwei Schauspielern zu einem begehbaren 3D-Modell. In dem versuchen sie die Zeugenaussagen nachzustellen, stoßen dabei immer wieder auf Ungereimtheiten. Bis zum Schluss werden sie nicht klar wissen, wie der Tod erfolgte, doch sie werden um einige Erkenntnisse reicher sein. Die Filmszenen auf der Leinwand zeigen das, was unten auf der Bühne nachgespielt wird, doch stets leicht verschoben. Während der Kronleuchter auf der Bühne schwingt, hängt er z.B. im Film still von der Decke. Diese Details machen auf subtile Weise deutlich: Sicherheit der Fakten gibt es nicht. So wird die persönliche Spurensuche zu einer übergeordneten Suche nach der Wahrheit, nach Sichtweisen, nach Erkenntnissen, nach Lebenserzählungen und erzählt davon, dass sie nicht festgeschrieben werden können. Auch wenn diese Arbeit in ihrer Stringenz beeindruckt, wäre ein größeres Maß an Dramatisierung wünschenswert gewesen, um die erzeugte Spannung bis zum Schluss zu halten.
Birgit Schmalmack vom 16.6.19
Die Geschichte wiederholt sich nicht?
Auch eine Inszenierung aus Budapest war zum diesjährigen Festival außerhalb des Wettbewerbs geladen.
Als Regisseur Márk Tárnoki Brechts Stück „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ las, war er überrascht, wie sehr die Szenen aus dem Deutschland der dreißiger Jahre der Situation im heutigen Ungarn ähneln. So ist die Aufbereitung eines historischen Stoffes aus einem anderen Land eine Möglichkeit etwas über die jetzigen Entwicklungen zu zeigen. So hofft er zumindest.
Auf der Bühne eine Wohnung, die aus alten Türen und Fenstern zusammengesetzt ist. In ihr ein Sammelsurium an Gegenständen, die zeitlich in unterschiedliche Richtungen weisen und damit letztlich in keine konkrete. Die Menschen, die in ihr agieren, stecken in grauen Hosen und Hemden. Die jungen Schauspieler schlüpfen in die unterschiedlichen Rollen. Mal sind sie die Mitglieder einer Familie, mal Richter, mal Parteimitglieder, mal eine Jüdin, mal ein Jugendlicher. Immer wird deutlich, wie schnell sich Menschen unter Druck setzen lassen, wie schnell sie bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben und sich zum willfährigen Mitläufer einspannen zu lassen. Zwischen die Szenen hat der Regisseur rockige Lieder gesetzt, die mit E-Gitarre und Schlagzeug ironische Kommentare zum Geschehen abliefern. Das Gastspiel aus Budapest bot politisches Theater, dem es sichtbar mehr auf den Inhalt als auf die Form ankam.
Birgit Schmalmack vom 17.6.19
Suche nach dem Selbst
Zu Beginn stellen sich die Jugendlichen mitten zwischen die Zuschauer und kündigen voller Wagemut und Selbstbewusstsein an, was sie vorhaben: Einer wird einen Song singen. Einer wird eine tolle Liebesszene haben. Eine wird einen Monolog vortragen. Eine andere wird eine zu Herzen gehende Sterbeszene spielen. Einer werde immer authentisch sein. Jeder der zehn Jugendlichen des Jugendclubs der Bürgerbühne Düsseldorf wird in eine Rolle schlüpfen, von sich erzählen und dabei ganz viel über sich selbst erfahren. Somit sind sie die perfekte Besetzung für das Stück "Peer Gynt", das sie gemeinsam auf die Bühne bringen wollen.
Doch dazu brauchen sie die Fantasie der Zuschauer: "Stellt euch vor, wir sind Peer Gynt, Stellt euch dass hier ist der Wald, hier das Meer, hier die Berge!" Auf dem drehbaren Treppengerüst in der Mitte gelingt es den Zehn spielend all das in den Köpfen der Zuschauer entstehen zulassen. Die Suche des Abenteurers Peer Gynt wird zur Suche der Jugendlichen nach ihrem eigenen gerade sich entfaltenden Selbst. Immer wieder rutschen sie aus dem Stück "Peer Gynt" in ihre eigene Identität, oder was sie dafür ausgeben. Durch das hochenergetische Spiel der jungen Schauspieler, die kluge Führung durch den Regisseur Felix Krakau von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, die stimmige Mischung aus eigenem Text und Original und das perfekte Timing wurde daraus ein mitreißendes Stück, das es schafft, den Klassiker von Ibsen ernst zu nehmen, ganz nah an die Lebenswirklichkeit der Jungendlichen zu kommen und dabei auch noch eine Menge Spaß zu haben.
Sehr verdient hat diese Inszenierung den diesjährigen ersten Platz errungen.
Birgit Schmalmack vom 19.6.19
Deutschland im Sommer 2019
Ein "antibürgerliches Trauerspiel zwischen Küchentisch und Barrikade", so nennt die Jungeregisseurin Meera Theunert ihr Stück "Leck mir die Wunden". Aus dem Re-anactment von Fassbinders Film "Deutschland im Herbst" wird eine gnadenlose Abrechnung mit Deutschland im Sommer 2019. Sie lässt dafür Franz-Xaver Franz und Martin Mutschler in die Rollen von Fassbinder und seinem Geliebten Armin schlüpfen. So wie Fassbinders Rundumschlag nichts entging, so spießt auch das Alter Ego von R.W, alles auf, was ihm in die Quere kommt. Vor Xaver mit seinem Holzstab, den er wie eine Waffe schwingt, ist nichts sicher. Für die Auslieferung von Firmenchefs! Gegen die Auslieferung von Essen! Nicht nur der Turbokapitalismus von heute, die Übergriffigkeit von Hamburger Dozenten sondern auch die Nazi-Vergangenheit des Stifters des Körber-Festivals wird verbal zerhackt.
In der Überschreibung des Egomanen Fassbinders gelang ein provozierendes Stück politisches Theater. Die schmelzenden Songs, in denen Armin von einer besseren Zukunft träumt, geben der Arbeit eine weitere Ebene. Mit den Schauspielern Franz-Xaver Franz, der gleichzeitig den Text verfasste, und Martin Mutschler, der zudem seinen Song schrieb, hat Theunert das perfekte Darstellerteam gefunden, um eine innovative Arbeit zu zeigen.
Birgit Schmalmack vom 17.6.19
Das Remake eines Remakes eines Remakes
David Lynch verfilmte mit "Inland Empire" einen Remake eines ursprünglich deutschen Filmes, der aber nie vollendet worden ist. Regisseur Mathias Hunnus von der Hochschule Zürich versuchte nun den Remake dieses Remakes auf der Bühne. Sein viereinhalbstündiges Abschlussstück verlegte er von den Fluren und Kellerräumen des Züricher Hochschulkomplexes auf die Bühne des Thalia in der Gaußstraße und kürzte es auf eine gute Stunde. Eine bisher erfolglose Schauspielerin erhält die Chance in einem Hollywood Film mitzuspielen. Sie gerät in die Maschinerie von Hollywood und verliert sich in den Erwartungen, die die vermeintliche Starschmiede an sie stellt.
Die Szenen, die Hunnus in Zürich in direkter Face to Face Konfrontation mit einzelnen Zuschauern konzipiert hatte, zeigte er in Hamburg nun als Close Up auf der Leinwand. Direkte Bühnenszenen wechseln mit live gefilmten Filmeinspielungen, die auf die Papier-Leinwand projiziert werden. Zum Schluss wird diese eingerissen. Hinter ihr befindet sich das Filmstudio mit dem Nachbau des Wohnzimmers aus Lynchs Film.
Hunnus überspitzt die Darstellung der weiblichen und männlichen Charaktere. Sie spielen Klischees von Rollenvorstellungen und führen sie so ad aburdum. Wenn dann noch der Weiße Hase Kaffee ausschenkend oder Telefonhörer haltend zum wiederholten Male auftaucht, hat sich die Realität wieder um ein paar Grade verschoben. So viel Geschick man bei Hunnus auch bei der Uminszenierung seines Stücks auch attestieren musste, so sehr wünschte man sich als Hamburger Zuschauer doch, dass man in Zürich hätte mit dabei sein können.
Birgit Schmalmack vom 18.6.19
Auf dem Karussell
Nur auf dem Spielplatzkarussell können sie ihre Energie austoben. Wenn sie nebeneinander in den Kinosesseln abhängen, sind sie zum Abwarten verdonnert. Die drei Schwestern wollen eigentlich ausbrechen aus ihrem eng umgrenzten Leben auf dem Lande. Doch es fehlt ihnen der Mut. Irina, die jüngste, will so gerne arbeiten, doch ihre große Schwester Olga rät ihr davon ab. Olga ist als Lehrerin tätig und weiß, wie wenig erfüllend Arbeit sein kann. Sie rät Irina dagegen zur Heirat. Davon aber hat die mittlere Schwester Mascha mittlerweile genug. Ihre Heirat mit ihrem braven, aber wenig inspirierenden Ehemann lässt sie in die Aufbruchspläne ihrer jüngsten Schwester einstimmen. So diskutierenden die drei Schwestern auf der Bühne über ihre Vergangenheit und mögliche Zukunft. Jungregisseurin Milena Mönch des Salzburger Mozarteums hat das Cechov-Stück auf die drei Frauenfiguren zugespitzt. Mit den drei sehr unterschiedlichen Schauspieler*innen Anna Seeberger, Jonathan Stolze (herausragend!) und Iman Tekle gelang ihr so ein spritziges Generationenporträt. Der veränderte Schluss zeigt, dass ein Aufbruch nicht nur denkbar sondern auch möglich ist.
Birgit Schmalmack vom 18.6.19
Festgefahren in Rollenbildern
Zwischen den gelben Wänden bewegen sich die drei Familienmitglieder wie kleine Roboter. Streng abzirkelt sind ihre Bewegungen. Der Sohn fragt in stereotypischer Wiederholung: Fahren wir morgen zum Leuchtturm? Und der Vater antwortet ebenso stoisch, dass morgen das Wetter dafür viel zu schlecht sei. Während der Sohn und der Vater in ähnliche, beige, starre Anzüge gesteckt sind, trägt die Ehefrau und Mutter einen knall orangefarbenen Sportanzug. In ihr scheint mehr Energie zu stecken, wenn auch ihre Bewegungen genau so abgezirkelt sind wie die der Männer.
Die Jungregisseurin Marie Schleef von der Ernst-Busch-Hochschule aus Berlin hat den Roman "Fahrt zum Leuchtturm" von Virginia Woolf zum Anlass genommen, Rollenbilder genauer unter die Lupe zu nehmen. Schleef reduzierte die Handlung des Romans auf die drei Familienmitglieder. Dazu betrachtet sie in ihrem dreieckig zulaufenden Versuchsraum nicht nur das angespannte Verhältnis der Drei sondern auch ihre geheimen Wünsche. In den Übertiteln ist all das zu lesen, was sie sich nicht auszusprechen trauen. Von den unterdrückten Gefühlen handelt auch das Märchen von „De Fischer un seen Fruh“, das auch Woolf in ihren Roman einfließen lässt. Die unreflektierte Habgierigkeit der Frau führt hier nicht zum erwarteten Glück sondern zum Verstärkung des Unglücks.
Zum Schluss laufen auf dem Übertitelfeld die Stationen der Erkämpfung der Frauenrechte durch. Währenddessen ist die sportliche Frau am Schuften. Sie streicht alle Wände, und zwar genau im Ton ihrer Kleidung, so dass sie zum Schluss mit ihr verschwimmt. Gleichberechtigung soll kommen, aber wofür, mit welchen Zielen? Arbeit übernehmen, aber sich damit unsichtbar machen? Die spröde, minimalistische Arbeit von Schleef erlaubt keine einfache Interpretationen sondern fordert von den Zuschauern tätiges Mitdenken. Sie stellt ihre Auforderungen plakativ auf die Bühne und entlässt ihr Publikum mit mehr Fragen als Antworten.
Birgit Schmalmack vom 18.6.19
Wir sind ein Projekt!
Sie sind nicht einfach nur Freunde, aber auch keine Partei oder ein Verein. Deshalb erklären sie ihre Teamarbeit kurzerhand zum "Projekt". Dieses Projekt hat es aber in sich. Sie wollen die Welt retten und sind dabei bereit sich auf ein Abenteuer ohne Wiederkehr einzulassen: Zum Mars soll es gehen. Der rote Kreis seiner Umlaufbahn ist auf die transparente Rückwand gezeichnet. Davor stehen die Sechs in Heldenposen. Ob sie tatsächlich mit ihrer Papierbox in den Weltraum starten werden oder ob ihr Projekt eher in Planungsphase stecken bleibt, bleibt bis zum Ende offen. Was aber auf jeden Fall klar wird: Die Projektmitglieder hatten eine Menge Spaß zusammen. Sie haben ein Manifest mit über 200 Paragraphen verfasst. Sie sind zusammen gewachsen. Sie haben Ideen ausprobiert. Sie haben ihre Wünsche formuliert. Und sie haben ihr Publikum auch im Rahmen des Körber Studios bestens unterhalten. Wie sich diese Sechs zusammen mit ihrer Regisseurin Anna Marboe vom Wiener Max Reinhardt Seminar aus Wien gekonnt auf die Spuren einer typischen Projektarbeitsweise begeben, zeugt von sehr viel Talent zur genauer Beobachtung, zum überbordenden Spielwitz, zur Einbau unerwarteter Brüche und zur selbstironischen Komik. Ein toller Abschluss des diesjährigen Festivals.
Birgit Schmalmack vom 18.6.19