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Wozu aufregen?
In aller Seelenruhe wickelt die Brandwache das gelb-schwarze Absperrband wieder auf. Klar, es gäbe genügend Gründe so richtig in Rage zu geraten. Mehrere Terrorakte haben die Stadt erschüttert. Wut auf die Attentäter, Wut auf die eigene Ohnmacht oder Wut auf die machtlose Regierungsvertreter könnten da schon aufkommen. Auch die Terroristen werden im Namen ihres Gottes, den sie immerhin noch für ihre Taten verantwortlich machen können, wütend geworden sein. Ihre Wut wird ihnen das Leben kosten, aber erst nachdem sie ihren westlichen Opfern das ihre genommen haben und nachdem sie die übrigen Ungläubigen zu Tode erschrocken haben. Doch wer als Brandwache eingesetzt ist, muss Ruhe bewahren. Und Karin Neuhäuser macht ihren Job professionell, als sie die „Wut“-Suada ihrer Autorin Elfriede Jelinek zu Beginn zwanzig Minuten lang herunterschnurrt.
Doch der Beat des Untergangs wummert schon im Untergrund. Bevor die Welt in den Abgrund stürzt, soll vorher noch richtig doll gefeiert werden. Die Wut der kleinen Leute (Marina Galic, Julian Greis, Franziska Hartmann, Marie Löcker, Sven Schelker) wird pünktlich zu Silvester in einer nicht endenden Woge aus Alkohol, Pisse und anderen Flüssigkeiten ersäuft. So spürt man die Wut zum Schluss nicht mehr, die Wut über die Ungerechtigkeiten der Verteilung des Geldes, das ständige Rechnen mit jedem Cent, das dauernde Gefühl zu kurz gekommen zu sein. Wir saufen unsere Wut einfach weg, wenigstens für einen Tag im Jahr, und wenn es der letzte ist.
Simon Stephens hat eine Fotoserie über das Silvester im verarmten Manchester von 2015 zum Anlass für sein Stück "Rage" genommen. Regisseur Sebastian Nübling kombinierte dieses Stück mit Auszügen aus dem Text von Elfriede Jelinek "Wut", den sie nach den Anschläge von Paris auf Charlie Hebdo, eine Konzerthalle und einen jüdischen Supermarkt schrieb.
Existenzielle Wut spürt man bei all den Figuren, die sich auf der Bühne abstrampeln, wenig. Ihre Aufregung ist ziellos und zweckslos. Sie erregen sich, aber ohne Ziel und ohne Hoffnung auf eine Änderung. Hier wird keine Revolution vorbereitet, ihre Wut richtet sich zum großen Teil gegen sich selbst, ihre Gesundheit, ihre Saufkumpanen, ihre eigene Machtlosigkeit. Der Beat der Technomusik scheint sie zwar vordergründig in Bewegung zu halten, doch sie kommen nur außer Atem ohne vorangekommen zu sein. Bei ihrem Tanz bleiben sie wie festgetackert auf der Stelle. Mal verbünden sie sich mit dem einen, mal schwören sie dem anderen Freundschaft oder Liebe. Doch immer nur für einen Drink, für einen Trip, für eine Kusslänge. Dann spült sie die Alkoholwoge in die Arme des nächsten oder in die nächste Pisselache auf dem Boden. Die Polizisten (Kristof Van Boven, Sebastian Zimmler), die eigentlich für Ordnung sorgen sollen, sind selbst Teil der Feierwütigen.
In Deutschland verbindet sich Silvester natürlich auch mit der Stadt Köln. Zeigt Stephens anhand von Manchester die Leitkultur, die in der Kölner Silvesternacht angegriffen worden ist? Ein Abend, der einen etwas ermattet und wütend zurücklässt, gerade weil sich die Wut selbst nicht mehr zu lohnen scheint. Wut sollte den Menschen eigentlich mit Energie zum Aufbegehren versorgen, hier reicht sie gerade für den Gang zum nächsten Kiosk oder für eine müde Pöbelei des zufällig Vorbeilaufenden.
Birgit Schmalmack vom 19.9.16
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