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Gesetz der Trägheit
„Alle sind doch ein bisschen verliebt in dich“, verrät die Sekretärin mit glänzenden Augen dem sterbenden Lenin, obwohl der einst große Führer nach einigen Schlaganfällen nur noch sabbernd im Bett liegt.
Das Politikbüro hat ihn jedoch längst abgeschrieben. Die Protokolle erreichen ihn nicht mehr in seiner Datscha, das Telefon ist seit einem Monat funktionsunfähig. Stalin besucht ihn nur noch, um die Möglichkeiten der endgültigen Übernahme der Macht abzuchecken. Trotzki ist zum intellektuellen Beobachter geworden. Lenin hat in seiner unfeiwilligen Abgeschiedenheit seine mehr oder weniger ihm treu ergebende Entourage aus Leibarzt, Ehefrau, Sekretärin, Köchin und Leibwächter um sich versammelt. Alle wohnen in der mit allen historischen antiken Details ausgestatteten Datscha.
Regisseur Milo Rau wollte laut Ankündigung der Schaubühne ein Stück zur Revolution 1917 machen, herausgekommen ist ein Stück über den sterbenden Lenin. Es ist zu einem verklärten Blick auf die schwindenden Ideale einer großen Idee geworden. Rau hat dazu die Form gewählt, die Katie Mitchell an diesem Theater bereits zur Perfektion entwickelt hat: Eine auf der Bühne aufgebaute Kulisse dient dazu, mit einer Live-Kamera die Abläufe auf der Drehbühne einzufangen. Milo Rau dreht einen Film auf der Bühne, inklusive Vor- und Abspann und entsprechender Filmmusik, wahlweise von Avo Pärt, Johann Sebastian Bach oder Leonard Cohen. Inklusive der Schmink- und Umziehaktivitäten der Schauspieler rechts und links der Kulisse. Letzteres bekommt hier ein besonderes Gewicht, denn Lenin wird zunächst von einer blonden Frau (Ursina Lardi) gespielt, die erst im Laufe durch die Maskenbildnerin zu dem glatzköpfigen, abgezehrten Lenin mutiert.
Im Laufe des Abends werden etliche interessante Fragen angerissen. Was wird aus Idealen, wenn die Umsetzung droht? Ist Gewalt zur Durchsetzung legitim? Wie lässt sich verhindern, das Anführer zu Helden hochstilisiert werden? Braucht eine Bewegung vielleicht immer Helden? Müssen auch Revolutionen für die Erreichung eines solidarischen Kollektiv an der Machtfrage scheitern? Doch Milo Rau streift sie nur am Rande, er konzentriert sich so sehr auf die perfekte technische Umsetzung seines Doku-Reanactments, dass ihm die Bezüge zu heute in den Hintergrund geraten.
Doch die Figur Lenins gerät keinesfalls zu der eines Sympathieträgers, auch wenn die Besetzung mit Ursina Lardi diese Haltung zu Beginn stark unterstützt. Doch spätestens, wenn Lenin die beiden Kinder, die ihm ein Kollektiv mit einem Geschenk vorbeischickt, am liebsten erschießen und zerstückeln will, wenn er die zahlreichen Todesopfer der Revolution mit unverkennbarer Schadenfreude rechtfertigt, wenn er selbstgerecht die eigene Schwäche an den anderen in zunehmender sarkastischer Wut auslässt, dann bekommt die uneingeschränkte Zuwendung zu der um Mitleid heischenden, sterbenden Symbolfigur starke Risse. So erklärt diese Inszenierung mit ihrem verklärenden Pathos auch die Verführungskraft solcher Heldenfiguren und versucht sie zu entzaubern, indem sie ihren Zauber in aller Perfektion inszeniert.
Birgit Schmalmack vom 26.10.17
Abbildung: Lenin an der Schaubühne - Foto: Thomas Aurin
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