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Die Sicht der Mutter
Die Mutter (Katharina Naumow) sitzt zwischen den stählernen Ruinen Hamburgs und wartet. Sie wartet auf ihre Tochter (Laura Leish), die doch in ihrer letzten Nachricht versprochen hatte Weihnachten nach Hamburg zu kommen und nie eintraf. Hinter der Spiegelwand erscheint sie nun der Mutter. Sie spricht zu ihr, so wie es die "Muttel" von ihr gewohnt war. Doch diese letzte Postkarte blieb das letzte Lebenszeichen und noch immer klammert sich die Mutter an die Hoffnung, dass sie lebt.
In der Fortsetzung von "Wera V." wählt das Autoren- und Regieteam eine völlig andere Bildsprache. Sie bleibt ganz im Abstrakten. Die stählernen Kantenmodelle stehen für Aufruhr, Zerstörung und Unbehaustheit. Alles ist verloren, nichts bietet Schutz. Wenige Szenen verdeutlichen die Verzweiflung der Mutter. Wenn sie in fünf Minuten ihre wichtigen Dinge in einen Überlebenskoffer für den Luftschutzbunker packen soll und sich für nichts entscheiden kann. Wenn sie nach Unterschlupf sucht und zwischen den Kantenmodellen hin und her hetzt. Wenn sie vor der Glasscheibe, hinter der ihre Tochter langsam verschwindet, mit erhobenen Händen stehen bleibt. Wenn sie ihrer Tochter ein Märchen ohne Happy-End erzählt.
Im Gegensatz zum ersten Teil bleiben hier aber die Fragmente unverbunden und in der Möglichkeitsform stecken. Man wünschte dem Abend mehr Zeit zum Reifen, mehr Muße für Pausen, mehr Raum für Fantasie für die besondere Beziehung zwischen Mutter und Tochter, Die Spannung, die sich im ersten Part spielend durch den Aufprall der Wunschvorstellungen an der Kriegsrealität, auch in der Widerspieglung durch den Schattenmann ergab, ist hier nur in Ansätzen zu spüren.
Birgit Schmalmack vom 28.7.16
Abbildung: Elise V. - auf der Altonale
Es ist Krieg!
So ruft der jungen Frau immer wieder ihr Schatten, der direkt hinter ihr sitzt, zu. Doch Wera ist eine Meisterin im Verdrängen. Von der Wehrmacht ins besetzte Poznan abkommandiert tut die Deutsche in der polnischen Stadt ihren Dienst und will ihren Anspruch ans Glücklichsein nicht aufgeben. Wie geht das in den Jahren 1941-44? Das fragt sich nicht nur ihr Schatten.
Wera (Laura Leish) will alles positiv sehen; ihre Kleidung aus dünnen Papierstoff ist schneeweiß. Doch der Staub ihres Daseins legt sich schnell auf sie und ein Gefühl des unkontrollierbaren Drecks begleitet sie. Sie geht immer wieder ins Kino, doch eher um ihren ungeheizten Wohnung zu entkommen. Sie sucht das Vergnügen, aber überall verfolgt sie ihr Schatten in immer wechselnden Männergestalten und lässt ihr kurzfristig Lebensfreude schnell auf den Boden stürzen.
Er hat die Aufgabe, ihr in verschiedenen Rollen die Realität näher zu bringen. Als Hausmeister, als Nationalsozialist, als polnischer Nachbar, als deutsche Krankenschwester - stets konfrontiert er sie mit der Kriegswirklichkeit im besetzten Polen. Währenddessen schreibt Wera ihrer Mutter, die in Hamburg zurück geblieben ist, Postkarten. Immer wieder betont sie: Mir geht es gut!
Mit einem Koffer ist sie in Poznan angekommen. Wie aus einem Koffer wirkt auch ihre Wohnung, die sich nach dem Öffnen des Wandschrankes zeigt. Eine Kommode dient als Sitzbank, das Bett lässt sich hervorziehen, die Seitenwände dienen als Kleiderstangen.
Autorin Ewa Kaczmarek (Pseudonym: Laura Leish) hat in Poznan die 100 Postkarten entdeckt und daraus am Theater Usta Usta ein Stück entstehen lassen. Die Leerstellen, die die Karten lassen, füllt sie zusammen mit dem Schauspieler Piotr Zawadzki in intensiven 80 Minuten. Das Stück lässt die Zuschauer nicht zuletzt durch das berührende Spiel von Leish in die Gefühlwelt einer Frau eintauchen, die an ihrem Recht auf Verdrängung festhält. Sie wird damit zu einer Chiffre für eine Generation der Täter, die die Augen bewusst zugemacht hat, aber auch zu einer Stellvertreterin der heutigen Gesellschaft, die Bilder von Krieg, Hunger und Elend einfach wegzappt. Trommelnder Applaus war der hervorragenden Arbeit am Schluss der Aufführung im Kolbenhof sicher.
Birgit Schmalmack vom 16.07.16
Abbildung: Großartiges Gastspiel: "Wera V." - Foto. Maciej Domagalski
Der Faust in 90 Minuten
Faust will neue Räume betreten. Vorsichtig setzt er einen Fuß in das helle Viereck auf dem Boden. Denn was nützt ihm das Anhäufen allen Wissens, wenn ihm neue Erkenntnisse verwehrt sind? So verlässt er die Denk-Muster der reiner Wissenschaft und öffnet sich der Magie. Ein gefährliches Terrain, wie sich bald herausstellt. Denn er begegnet Mephisto, der ihm zwar den Zugang zu neuen Erlebniswelten eröffnen will, natürlich nicht ohne Gegenleistung. Nach dem Tode soll Faust ihm dafür Gesellschaft leisten.
Blitzschnell mutiert der Schauspieler Haydar Zorlu vom Gelehrten zum Teufel. Strahlt ihn der rote Scheinwerfer an, verhärten sich seine Gesichtszüge, fängt der Mund an zu zucken und spuckt die harten Konsonanten wie Pfeile ab. Wenn er wieder unter dem weißen Licht zu sehen ist, klingen seine Worte gesetzt und gewählt wie die eines Mannes, der gewohnt ist kluge Reden zu formulieren.
Doch was wäre Faust ohne seinen Zauberteufel? Er hätte nie zu dem in aller Welt bekannten "Faust" werden können. Denn in Goethes berühmtesten Werk geht es nicht nur um den erkenntnishungrigen Wissenschaftler sondern auch um die Abenteuer, die dieser mit Hilfe Mephistos bestehen muss. Und die haben es in sich. Mephistos lässt Faust schließlich Grete begegnen, ihre Schönheit erkennen und verführen. Er lässt Faust Beihilfe zum Mord an Gretes Mutter durch eine Überdosis Schlagmittel leisten. Dafür landet Grete im Kerker und verliert ihr dort zur Welt gebrachtes Kind.
Alle Personen treten sie bei Haydar Zorlus "Faust"-Solo auf, gespielt durch ihn selbst. Ganz in schwarz wechselt er im Handumdrehen die Rollen. Sogar die Nachbarin Frau Marthe lässt er in breitem Rheinisch ihren Part übernehmen. Zorlus Fassung ist geschickt gekürzt. Eine überzeugende Zusammenfassung auf die wesentlichen Inhalte ist ihm gelungen. Im Schnelldurchlauf lässt er den Faust so spielen, dass ihn jeder wunderbar begreifen kann. Mit dieser One-Man-Show ist er nicht durch Deutschland getourt sondern hat auch in der Türkei die Zuschauer für Goethes Faust begeistern können. So kann Vermittlung von Klassikern in 90 Minuten gelingen.
Birgit Schmalmack vom 11.7.16
Abbildung: Faust: Haydar Zorlu - Foto: Delli Bakis
Mit den historischen Größen Altonas unterwegs
Am Stuhlmann Brunnen und im 17 Jahrhundert startet die Reise durch die Geschichte Altonas. Sie endet am Blücher Denkmal neben dem Altonaer Rathaus in der Jetztzeit.
Quacksalber treten auf, aber auch Feldherren, dänische Könige, Napoleon, schwedische Truppen und Unternehmer, Politiker und Beamte Altonas. Sie alle bestimmten die Geschicke der Stadt, die "all-zu-nah" vor den Stadtmauren Hamburgs lag.
Auf und ab geht es durch Altona, passend zum Auf und Ab in der Geschichte der Stadt. Sie wurde zum Zankapfel vieler Parteien. Dänemark, Schweden, Frankreich oder schlicht der Nachbar Hamburg versuchten Einfluss zu nehmen. Der lange Weg zwischen der Eroberung und Befreiung durch wechselnde Einflußnehmer mit der Aufforderung sich gut mit Nahrungsmittelvorräten einzudecken, führt an den heutigen Fisch- und Sushirestaurants am Hafenrand entlang. Dazu schlägt Ben die Trommel auf seinem Cello und Altonia gibt die Marschroute durch ihr Megafon vor.
Theatro mobil zeigen diese Entwicklung anhand kleiner Spielszenen an den historischen oder gedachten Orten. So wird ein Elbabhang zum Salon von Sieveking, in dem die Zuschauer als Hamburger Gesellschaft begrüßt werden. Jeder bekommt einmal den Hut aufgesetzt und darf sich kurzfristig als Heine, Reventlow oder Klopstock.
Ben con Cello und Altonia sind die charmanten Spielemeister in diesem Schnelldurchlauf durch die letzten Jahrhunderte Altonas. Sie haben ihre ganz besonderen Mittel, um diese Geschichte erlebbar zu nahmen. Auf der Palmaille drücken sie den Zuschauern vier Schlagstöcke in die Hand, zählen zwei Mannschaften ab und schon startet das Spiel: "Wer befördert seine Kugel als erster durchs Zieltor?". Denn die Palmaille wurde 1638/39 als Spielstraße für das damals populäre Spiel „Palla a maglio“ genutzt, wie eine Tafel am Anfang der Straße belegt.
Auch das Wundermittel des Armenarztes Struensee "album graecum" dürfen alle probieren, bevor Ben erzählt, dass es aus gereinigtem Hundekot hergestellt sei.
Altona war immer schon ein tolerantes Plätzchen. Hier durften Menschen anderen Glaubens Heimat finden, denen Hamburg den Zutritt verwehrte. So stimmt die Zuschauergruppe auf der viel befahrenen Elbchaussee das Lied "Die Gedanken sind frei" an, bevor sie zur deutsch-dänischen Grenze gelangen .
Unter der Zollgrenze, die von einem Zollstock symbolisiert wird, dürfen sie nur unter Vorweisung der richtigen Papiere und der richtigen Begründung durchschlüpfen.
Am Blücherdenkmal gemahnen theatro mobil an die Toleranztradition Altonas, wenn sie unter die Kriegserzählung, die knarzenden Cellotöne und die antreibenden Trommelschläge an die Flüchtlinge von heute erinnern.
Birgit Schmalmack vom 11.7.16
Abbildung: Altona(h) - Theatro mobil
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