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Auf dem Hindukusch ins Nichts
"Aber das ist ja trotzdem auch nur so ein Text. Denn es ist ja nicht hier, das Grauen, es geschieht hier ja nicht, man darf das nicht verwechseln mit dem, was in der Wirklichkeit geschieht." Dass es hier auf der Bühne im Thalia in der Gaußstraße keinesfalls um das wirkliche Grauen geht, ist in jedem Moment präsent. Denn wir befinden uns weder im Urwald des Kongos, im Dschungel des Vietmans noch in den Bergen des Hindukusch. Das Gewirr stammt nicht von Urwaldpflanzen sondern von Kabeln. Wir sind „live on air“ in einem Hörfunkstudio. Das Grauen ist hier ganz handgemacht. Die Zuschauer können ihm beim Entstehen zugucken.
Dennoch scheinen sie hautnah bei der Afghanistan-Expedition des Bundeswehr-Hauptfeldwebels Pellner mit seinem ostdeutschen Untergebenen Stefan Dorsch dabei zu sein. Ihr Hindukusch ist jedoch kein Gebirge sondern ein träge dahin fließender Fluss. Sie sind mit dem nur Pellner bekanntem Auftrag unterwegs, den in der Einsamkeit durchgeknallten Oberstleutnant Deutinger (Peter Maertens) zu finden und zu liquidieren, weil dieser zwei seiner Kameraden erschossen hat. Doch erstmal treffen sie auf ihrer Reise jede Menge anderer merkwürdiger Gestalten, die man alle in Afghanistan nicht vermuten würde. Einen italienischen Grubenleiter, der armselige Einheimische ausbeutet, um die Rohstoffe für die Handyherstellung aus der Erde zu bekommen. Einen obdachlosen Mann, der durch einen Bombenanschlag Haus, Frau und Kind verloren hat, und im Urwald mit dem Verkauf von Socken, lactosefreiem Yoghurt und Playstationspielen aus seinem Elend Kapital schlagen will. Unansehnliche alte Männer, die kommen, um sich hier willige einheimische Mädchen zu kaufen.
Auch Autor Wolfram Lotz kommt vor: Irgendwann wird er von Dorsch verzweifelt angerufen, ob denn diese Reise auch mal irgendwo ankommen würde. Er bekommt zur Antwort, dass sie in die verkehrte Richtung gefahren seien. Doch das ist hier natürlich völlig egal: Deutinger findet sie, der schon vor seinen Verfolgern erkannt hat, dass die Reise in die Finsternis unvermeidlich zu sich selbst führen muss. Die vermeintliche Auftrag dient schließlich nur der Konfrontation mit dem eigenen Ich und der kompletten Hinterfragung des eigenen Daseins.
Lotz benutzte für seinen als Hörspiel geschrieben Text Joseph Conrads Roman "Das Herz der Finsternis" (1899) und Francis Ford Coppolas Film "Apocalypse now" (1979). Er vernetzte die Geschehnisse aus dem kolonialen Kongo und dem Vietnamkrieg mit dem „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan.
Regisseur Christopher Rüping wiederum spielt mit dem Text - ganz nach dem Willen des Autors, der zum Streichen, Umdeuten und Benutzen aufforderte. Seine männliche Viererbande (Nicki von Tempelhoff, Pascal Houdus, Camill Jammal und Julian Greis) verwandelt die Studiobühne (Bühne: Jonathan Mertz) in eine Spielwiese der Illusion. So halten sie die Spannung über zwei handlungsarme Stunden mit Witz und Leichtigkeit aufrecht, schaffen aber auch Momente, in denen das „Grauen“ zum Greifen nahe zu sein scheint.
Birgit Schmalmack vom 1.1.15