Willkommen in deinem Leben, Altonaer Theater

Maria Magdalena auf den Privattheatertagen

Willkommen in deinem Leben, Altonaer Theater
Wer ist stärker: Die Liebe oder der Tod?
Plötzlich sitzt der Tod auf dem Beifahrersitz. Charly Cox muss sich damit auseinandersetzen, dass seine Lebenszeit bald zu Ende ist. Im Angesicht des Todes wird ihm schlagartig bewusst, wie jämmerlich sein Leben bis hierhin gewesen ist. Keinen Traum hat er sich erfüllt, nie hat er die große Liebe getroffen und nie ist er ein Risiko eingegangen. So setzt er sich in sein Auto und fährt immer geradeaus. Der Anhalter, den er in der Wüste aufgabelt, stellt sich als sein persönlicher Begleiter namens Wally Tod vor. Dass Charly Cox gerade in dieser Wüste auch auf die sympathische Nell treffen wird, ruft eine weitere Person auf den Plan. Die große Liebe namens Kiki hat ihren Auftritt und macht Wally seinen Platz streitig.
Ein hölzernes Schaukelsofa vor Wüstenkulisse, ein stetig kreisender Ventilator und ein paar schäbige Sessel – mehr braucht das Theater Ravensburg nicht, um die allegorische Geschichte um den Tod und das Leben auf die Bühne zu bringen. Der Tod und die Liebe durften dick auftragen, der eine mit roten Cowboystiefeln und breiter Hutkrempe, die andere im knallroten Partykleid und blonder Lockenperücke. Bei aller Doppelbödigkeit vergaß die Ravensburger Bühne unter der Regie von Karsten Engelhardt den Unterhaltungsanspruch nie. So viel wurde sicher selten über den Tod gelacht! Das Eröffnungspublikum der Privattheatertage nahm die hintergründige Komödie im Altonaer Theater mit begeistertem Applaus auf. Vieler der Eintrittskarten wanderten in eine der pinkfarbenen Boxen, um für den Publikumspreis zu stimmen.
Birgit Schmalmack vom 17.6.15

Ich werde nicht hassen; Kammerspiele
Bildung als Waffe gegen die Ungerechtigkeit
Er lebt im größten Gefängnis der Welt, aber mit Meerblick. Der palästinensische Arzt hatte seit frühester Jugend ein Ziel, das er beharrlich verfolgte: Er wollte statt mit Waffen mit Bildung für die Zukunft seines Landes kämpfen. Doch seine Zielstrebigkeit wird im Laufe seines Lebens auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Jede Passierung der Grenzen seines Gefängnisses „Gaza“ wird zu einer Übung in Kompromissbereitschaft, Unterwürfigkeit und Toleranz. Er arbeitet in israelischen Krankhäusern mit großem Erfolg, dennoch muss er sich täglich an der Checkpoints der Verdächtigung als Terrorist aussetzen. Jede seiner Auslandsreisen wird zu einem Spießrutenlauf durch die israelische Behördenwillkür. So kommt er zu spät zu seiner todkranken Ehefrau, um ihr noch helfen zu können. Während des letzten Gaza-Bombardements erlebt er mit, wie drei seiner Töchter von Bomben zerfetzt werden. Dennoch hat er sich fest vorgenommen: „Ich werde nicht hassen!“ Nach den biographischen Erlebnissen des Arztes Izzeldin Abuelaish hat Ernst Konarek am Theaterhaus Stuttgart einen eindrücklichen Monolog inszeniert. Er legt mit einer persönlichen Geschichte den Finger in eine leider immer noch sehr aktuelle politische Wunde. Mit Standing Ovations feierte das Publikum in den Hamburger Kammerspielen die Leistung des Schauspielers Mohammad-Ali Behboudi, der mit seinem Spiel für ein authentisches Theatererlebnis sorgte. Dass die Vielschichtigkeit bei diesem Stück auf der Strecke bleiben musste, weil dieser Arzt schlicht ein zu guter Mensch ist, nahm man gerne in Kauf.
Birgit Schmalmack vom 20.6.15

Haydi!, Ernst Deutsch Theater
Unüberwindliche Grenzen
Ein schweres Stahltor fällt ins Schloss. Ein Kind steht davor und schlägt verzweifelt gegen das Metall. Doch die Grenze, hinter der seine Eltern auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, bleibt verschlossen. Die Grenzbeamten finden später einen völlig ermatteten kleinen Körper, der in ihren Händen seinen letzten Atemzug tut. Einzig ein rotes Tuch, das das Kind um seinen Hals geschlungen hat, bleibt liegen, als der Leichnam abtransportiert worden ist. Der Beamte tütet es in eine Klarsichtfolie ein und steckt es in einen Aktenordner, der diesen Fall dokumentiert. Doch seine Botschaft bleibt ungehört. In der Verwaltungsstube kümmert man sich viel lieber um die Weihnachtsdeko, um die richtige Crema auf dem Kaffee, den politisch korrekten Umgang mit der Inklusion und um die Qualität des Kantinenessens. Die Familie Flöz zeigte bei ihrem Hamburger Gastspiel anlässlich der Privattheatertage eine bis ins letzte Detail ausgefeilte Arbeit. Jeder Strich der Novel-Graphic-inspirierten Filmleinspielungen stimmte, jede Kostümierung entlarvte den dargestellten Charakter, jeder Handgriff der drei Schauspieler bei ihrer Umwandlung in eine ihren zahlreichen Rollen saß, jede Kopfdrehung des von ihnen geführten Puppenkörpers belegte die Dramatik der Handlung. Es sollte eine anspruchsvolle Produktion werden, die all den namenlosen Opfern der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik ein Gesicht geben wollte. Doch in ihrem Willen diesen Aspekt mit der Ignoranz der Asylbeamten zu konfrontieren, geriet ihnen ihr eigentliches Anliegen allzu oft in den Hintergrund: Zu viel Spaß hatten sie an ihrer Verballhornung des Büroalltags a la Stromberg und Co. Schade dass sie ihrem Publikum dann doch nicht mehr Tiefgang zutraute.

Mondlicht und Magnolien, Harburger Theater
Großes Kino?

Wie entsteht großes Kino? Mit etlichen Säcken Erdnüssen und jede Mengen Bananenkisten. Eine Woche lang werden Drehbuchautor und Regisseur vom Produzenten eingeschlossen, um seinen Film „Vom Winde verweht“ auch nach den Misserfolgen in seinen Vorversionen noch zu einem Erfolg werden zulassen. Es gibt allerdings ein großes Hindernis auf dem Weg: Der Autor hat das Buch nicht gelesen. Also spielen Produzent, Sekretärin und Regisseur es ihm einfach vor. Dabei stellt sich aber heraus, dass der Autor die Aussage des Buches politisch völlig inakzeptabel findet. Nur der Hinweis auf seinen Vertrag und die versprochenen Honorar verhindert seine Flucht durch die goldene Tür des Produzentenbüros. Gutes Boulevard-Handwerk zeigt die Produktion aus dem Alten Schauspielhaus Stuttgart. Man fühlt sich gut unterhalten, aber alles bleibt unter der Regie von Francois Camus im erwartbaren Rahmen, künstlerische Überraschungen sind hier vorgesehen.



Fast perfekt, Ohnsorg Theater
Wer behält die Kontrolle?

Noch sind sie unverbundene Einzelwesen: das hübsche 12-jährige Mädchen, der Lokal-Journalist und das einsame Muttersöhnchen. Noch sitzen sie nebeneinander auf ihren Einzelstühlen. Noch sind nur die leeren Rückseiten ihrer Lebenswelten zu sehen. Doch dann entstehen Beziehungen und Abhängigkeiten. Sie drehen die Regalwände um und geben sich gegenseitig Einblick in ihre Lebensräume. Die Küchenzeile des Muttersöhnchens, die Designerwohnung des Journalisten und das Kellerkabuff des Madchens - schwarz-weiß und grob verpixelt sind die Bilder, die entstehen. Das Muttersöhnchen entführt - nach dem Tod seiner Mutter total vereinsamt - das blonde unschuldige Mädchen. Sechs Jahre wird sie bei ihm in dem extra hergerichteten Kellerraum bleiben. Erst im Alter von 18 Jahren flieht sie. Warum so spät? Was hielt sie bei ihm?
Der Journalist, der damals über ihr Verschwinden berichtet hatte, wittert eine große Geschichte, die seine bisherige Erfolglosigkeit beenden soll. Das Mädchen, geprägt von sechs Jahren Kontaktsperre, willigt in die Interviewserie ein. Er sucht eine Story. Sie sucht einen Freund. Und das Muttersöhnchen suchte Liebe. Wechselseitige Bedürftigkeiten der Drei erschaffen Abhängigkeiten, die Regisseur Dieter Nelle mit seinen drei Schauspielern vom Münchner Teamtheater Tankstelle genau beleuchtet. Keine überflüssige Deko lenkt vom Fokus auf die Verstrickungen des sich verdichtenden Beziehungsgeflechtes ab. Wer wird die Kontrolle über die Geschichten behalten, die erzählt werden? „Die“ Wahrheit gibt es nicht. Ein überaus dichter, vielschichtiger Theaterstoff von Nicole Moeller, der sensibel mit drei hervorragenden Darstellern, von denen besonders Sascha Maaz als verdruckstes, schüchternes, gehemmtes Muttersöhnchen beeindruckt, auf die Bühne gebracht worden ist.
Elisabeth Grünebach zeigt eine junge Frau, die hinter der Fassade eines kämpferischen, selbstbewussten Mädchens nur unzureichend ihre Verletzungen verbirgt und Stefan Maass einen Journalisten, der sich über ihre Bewunderung und Anhänglichkeit nicht nur wegen seiner möglichen Karriere freut.

Tschechow: Einakter
Der Charme des Dilettantischen

Drei russische Provinzschauspieler sind zu Gast in der Großstadt Hamburg. Noch als der Vorhang aufgeht, werkeln sie lautstark auf der Bühne herum und tragen ihre anschließenden Schuldzuweisungen gleich mit den Fäusten aus. Erst die hinzueilende Frau mit dem französischen Akzent zeigt den beiden Clowns, wer hier das Sagen hat. Das Publikum versucht das Bremer „Mensch,Puppe!“-Ensemble so mit dem Charme des Dilettantischen für sich einzunehmen. Eine gute Einstimmung auf ihre Art mit den Einaktern des Großmeisters Tschechow umzugehen: Sie nutzen sie für ihre Kombination aus Schauspiel und Puppentheater, stets auf der Suche nach dem größtmöglichen Witzertrag in der Text-Vorlage. Da bricht ein Stuhlbein und der Protagonist landet auf dem Hosenboden. Da wird eine Laurel/Hardy-Szene aus dem Versuch, den Boden zu fegen und einen Teppich auszulegen. Da wirft einer seinen Puppengesprächspartner einfach in den nächsten Baum, um ihm seine Meinung deutlich zu machen. Erst beim letzten Einakter nach der Pause wurde der Tschechow-Blick auf die Dramen des ganz alltäglichen Lebens mehr herausgearbeitet. Wenn der Puppenspieler ganz in den Taschen, Koffern und Säcken, die der Handlungsreisende mit sich herumschleppt, versteckt ist und von hier aus den Corpus seiner lebensgroßen Halbpuppe dirigiert, versinnbildlicht das die Mühsal seines von Anderen beladenen Lebens. Wenn der Schriftsteller auf seinem Winzstühlchen die Lebensklage seines Freundes gleich zu einem kreativen Extrakt in seine Schreibmaschine einhackt, hat das Witz und Tiefgang zugleich. Schade dass nicht alle Stücke des Abends von dieser Vielschichtigkeit waren.

Maria Magdalena, Winterhuder Fährhaus
Kein Gedanke ist hier frei

„Ich versteh die Welt nicht mehr.“ Alles hat der Tischlermeister Anton richtig gemacht. An alle Regeln der Gesellschaft und der Kirche hat er sich gehalten. Ebenso sein treue, brave Frau. Die Schande ist dennoch über seine Familie gekommen. Sein Sohn als Dieb eingesperrt, seine Tochter unverheiratet schwanger. Dass beide unschuldig in diese Lage geraten sind, spielt für den engstirnigen Vater keine Rolle.
Zum Schluss lebt nur noch einer: Karl, denn er ist derjenige, der sich aus dem Gefängnis der Spießigkeit, der Enge und der Konvention befreien konnte. Alle anderen hatten nicht den Mut, sich gegen die Tradition zu stellen. Verständlicherweise, denn für stetige Überwachung war gesorgt. Immer steht jemand hinter dem Fenster mit Blick in die karge Wohnstube, selbst der Tod beendete die Überwachung durch die Mutter nicht. Der Geist der strengen Erziehung bleibt für Klara, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Karl nicht befreien kann, immer präsent. Außerdem hängen überall Mikrophone von der Decke. Kein Gedanke ist hier mehr frei. Keinen dürfen sie für sich behalten sondern sprechen sie gleich in die Mikros.
Die Inszenierung aus dem Stuttgarter Studio Theater war ungewohnte Kost für den Spielort der Winterhuder Komödie. Das Stuttgarter Ensemble unter der Regie von Christof Küster ersparte dem Hamburger Publikum keine der unglücklichen Wendungen im Stück von Friedrich Hebbel. Das verfehlte seine Wirkung nicht: Spannung kam auf und Beklemmung machte sich breit. Ein Theater der Aufklärung, das in heutiger Zeit für überflüssig gehalten werden könnte. Die Entscheidung darüber nahmen die Stuttgarter den Zuschauern nicht ab. Sie setzten das Drama in einen zeitlosen Rahmen und verzichteten ansonsten komplett auf Aktualisierungen. Die eventuelle Übertragung auf aktuelle Normierungstendenzen oder andere kulturelle Traditionen überließen sie ihrem Publikum. Ein Stück, das den Rahmen der Privattheatertage erneut erweiterte, und zwar um eine anspruchsvolle Klassiker-Inszenierung, die auf jede Publikumsanbiederung verzichtete.

Deportation Cast, Kammerspiele
Stetiger Perspektivwechsel gefragt

Elvira und Bruno sind in einer Klasse und sehr verliebt. Für zwei Fünfzehnjährige nichts Ungewöhnliches, doch Elvira ist Roma und lebt seit ihrem fünften Lebensjahr nur mit einer Duldung in Deutschland. Nun hat die Ausländerbehörde die Abschiebung ihrer Familie beschlossen. Von einem Tag auf den nächsten ist Elvira mit ihrem behinderten Bruder Exon, ihrer Mutter und ihrem Vater in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht, ihr Vater auf einer Müllkippe arbeiten muss und in dem sie als Roma-Nutte beschimpft wird. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf: Bruno wird sie holen.
Der wiederum liegt im Clinch mit seinem Vater, der eigentlich gerade dabei ist, sich mit seiner frischen hübschen Freundin eine neue Familie aufzubauen. Sein widerspenstiger, aufmüpfiger Sohn mit seinen vielen bohrenden Fragen stört da sehr. Sein Vater bietet Bruno gleich die passende Angriffsfläche; hat er doch als Lufthansapilot schon solche Abschiebemaschinen geflogen.
Autor Björn Bicker hat in seinem preisgekrönten Stück „Deportation Cast“ die verschiedenen Perspektiven dieses Falles geschickt miteinander verwoben. Nicht nur die beiden Familien stehen sich auf der Bühne gegenüber, sondern auch die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde, der Anwalt der Familie, die Frau einer Flüchtlings-NGO und der Flug begleitende Arzt kommen zu Wort. Regisseur Harald Weiler vom Theater Lichthof macht die Verschränkung in seiner Inszenierung mit nur vier Schauspielern und vielen schnellen Rollenwechseln sehr deutlich. Dass das so gut gelingt, liegt an der hohen Qualität aller vier Darsteller (Ulrich Bähnk, Parbet Chugh, Wicki Kalaitzi und Wiebke Wackermann) und ihrer psychologisch genauen Detailarbeit.
Anhand dieses Einzelfalles werden die übergeordneten Fragen konkret. Wie darf ein Land wie Deutschland mit seinen Asylanten umgehen? Sind die Einschätzungen der Behörden so objektiv, dass sie Abschiebungen rechtfertigen? Wie gehen die betroffenen Menschen mit diesen Behördenentscheidungen um? Dürfen die Einheimischen dabei tatenlos zu gucken oder sogar mithelfen? Einfachen Antworten verweigert sich das kluge Stück, diese muss der Zuschauer selber finden.

Birgit Schmalmack vom 27.6.15