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Wahrheit nur eine Sache der Perspektive

Ein Mensch ist gefangen in einem quadratischen Raum, der durch eine zentimeterdicke Kreideschicht auf dem Boden gekennzeichnet ist. Verzweifelt versucht der Mensch Zeichen in den Staub zu malen, hämmert sich gegen den Kopf um die Erinnerung an die richtige Symbole zu fördern, erkennt sein Scheitern und verwischt alles in großer Enttäuschung. Ein junger Mensch an Ende eines Weges, der ihn in die Sackgasse geführt hat.
Der 20-jährige Amerikaner John Walker Lindh findet sich 2001 in amerikanischer Gefangenschaft wieder, nachdem er in Afghanistan auf Seiten der Taliban in den Dschiad gezogen ist. Er war eigentlich auf der Suche nach der einzigen Wahrheit, für es sich lohnte sein Leben einzusetzen. Und sieht sich nun festgesetzt in einer Gefängniszelle, zum Nichtstun verurteilt.
Roger Vontobel untersuchte in seiner ersten Regiearbeit in Hamburg vor zwölf Jahren die Parallelen zu Lessings Stück „Philotas“. Auch hier stellt ein junger Mensch seine ganze jugendliche Energie in den Auftrag des großen Kampfes für die vermeintlich richtige Sache. Bei der ersten Schlacht in der Armee seines Vaters wird der Königssohn jedoch sogleich von der gegnerischen Seite gefangengenommen und muss erkennen, dass er mit seinem forschen Voranpreschen sein Volk erpressbar gemacht hat. Lessing lässt ihn in seiner Zelle schmerzhaft erkennen, dass der Wahrheitsanspruch beider Seiten austauschbar ist.
Diese These versucht Vontobel nun auf den Fall von Walker Lindh zu übertragen, indem er das Gelöbnis der amerikanischen Soldaten abspielen lässt, während Lindh von seinem Engagement für den Dschiad berichtet, indem er in den Schlachtruf des zu allem erschlossenen Lindh sowohl Zeilen aus dem Koran, Märtyrerreden, dem christlichen Glaubenbekenntnis und dem Vaterunser mischt. Wahrheit ist also nur eine Sache der Perspektive, denn jede Ideologie kann beliebige Aussagen für ihren Kampf instrumentalisieren.
Für einen Regieanfänger war das ein interessanter Ansatz, doch für eine Wiederaufnahme hätte man sich eine tiefer gehende Betrachtung einzelner Fragen gewünscht. Wenig erfährt man über die religiösen Beweggründe Lindhs, die aber die Grundlage für seine Suche waren. Wenig auch über seine Überlegungen während der Zeit seiner Gefangenschaft. Auch die eklatanten Unterschiede zwischen der Figur des Philotas und Lindhs wären vielleicht einer genaueres Hinguckens wert gewesen.
Vontobel setzt aber weniger auf den Intellekt als vielmehr die Emotionen seiner Zuschauer. Im Gegensatz zum diskursorientierten Toleranzansatz Lessings wird der Zuschauer nicht mitgenommen auf einer Suche nach der Erkenntnis aus der eigenen Tragödie. Er liefert dafür nicht wie Lessing eine argumentative Auseinandersetzung sondern ein Mosaik aus gefühlsstarken Bildern und Textausschnitten.
Was den Abend aber dennoch überaus sehenswert macht, ist die Ausnahme-Schauspielerin Jana Schulz. Sie macht diese Arbeit zu einem Erlebnis von darstellerischer Intensität, die ihresgleichen sucht. Sie mutiert sekundenschnell von einem zitternden, zusammen gekrümmten Jungen zum todesmutigen Kämpfer, vom suchenden Jugendlichen zum religiösen Fanatiker. Sie zeigt im Alleingang eine Bandbreite an existenziellen Gefühlszuständen, die jenseits von intellektuellen Höhenflügen beeindruckt.
Birgit Schmalmack vom 10.2.14


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