Zum Rädchen degradiert
Ein Foyer in einer verwitterten, heruntergekommen Villa (Bühne: Alex Eales). Die noch vorhandenen Tapeten hängen in Fetzen herunter, der Putz blättert ab, die Pflanzen wuchern schon ins Hausinnere. Wie ferngesteuert öffnen und schließen sich Türen, geht Licht an und aus, tragen schwarz gekleidete Frauen beleuchtete Schaukästen zur einen Tür herein und zur anderen wieder hinaus. Wenig später schieben sie gefesselte, an den Augen verbundene Menschen vor sich her, die sie hinter Türen einschließen oder wieder herausholen. Einen von ihnen bugsieren sie schließlich mitten ins Foyer: Iokaste (Julia Wieninger) soll ihre Geschichte erzählen. Von einer ihrer Wärterinnen werden ihr die Stichworte dazu eingeflüstert. Mit atemloser, von Angst getriebener Stimme erläutert die Noch-Königin ihre missliche Situation. Sie hat nach der Ermordung ihres Mannes unwissentlich ihren eigenen Sohn Ödipus geheiratet und mit ihm vier Kinder gezeugt. Nun vegetiert ihr „Kindmann“ oben mit selbst ausgestochenen Augen in einem der Zimmer auf dem Boden vor sich hin und einer ihrer Söhne hat mit seiner Armee draußen vor der Stadt Stellung bezogen, um gegen den anderen Sohn (Christoph Luser) um die Herrschaft zu kämpfen. Die Mutter will das drohende Unglück mit allen Mitteln verhindern. Doch ihre allgegenwärtigen Wärterinnen machen ihr von Anfang an klar: Sie ist nicht die Herrin über ihr Schicksal. Auch der Zuschauer kennt ihre Geschichte. Er kennt „alles Weitere“ nicht nur „aus dem Kino“ sondern aus seinen Klassikern. Er weiß, dass ihr Aufbegehren zwecklos sein wird. Und doch sitzt er bei Katie Mitchells Inszenierung des altbekannten Stoffes in der Neufassung von Martin Crimp wie gebannt auf seinem Platz und sieht fasziniert dem Treiben auf der Bühne zu. Wie ein Uhrwerk schnurrt Mitchell das Spiel des Schicksals ab. Die Requisiten sind wie in einem Museum ausgestellt, ihr Einsatz liegt lange zurück. Wenn die Menschen jetzt erneut in das Geschehen hineingeworfen werden, unterliegen sie nur der Illusion, sie könnten an dem Verlauf etwas verändern. Sie sind nur Spielfiguren der Götter, die über ihr Schicksal lange Beschluss geführt haben. Mitchell gelingt es durch diesen Kniff einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte zu werfen, der das Aufbegehren einer selbstbewussten Frau in den Mittelpunkt stellt. Denn Iokaste will sich nicht zum Rädchen degradieren lassen. Obwohl sie ahnen muss, dass sie schon jetzt verloren hat, kämpft sie sich mit aller Kraft gegen das Schicksal. Sekundengenaue Choreographie, faszinierendes Bühnenbild, spannendes Konzept, künstlerische Innovation und exzellente Schauspieler, die auch in kürzesten Auftritten ausdrucksstarke Stimmungen aufzubauen verstehen – all das macht diese Inszenierung unter der neuen Intendanz von Karin Beier zu einem ganz außergewöhnlichen Ereignis, das auch einen noch weiteren Weg als in die Tonndorfer Hamburg Studios lohnen würde. Birgit Schmalmack vom 2.12.13
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