Wie ein Vogel
Hinter der Designer-Glas-Metallwand schimmern die Buchstaben „EU“. Doch Khady Demba hat keinen Zutritt zu dem dahinter Verborgenen und Abgeschotteten. Sie weiß nicht einmal, was Europa bedeutet. Nach dem Tod ihres Ehemannes wurde sie von ihrer Schwiegerfamilie verstoßen und an einen Schlepper vermittelt. Doch sie kommt nicht weit. Sie strandet in einer Wüstenstadt, kurz vor dem Grenzzaun in Marokko. Um sich und ihren Weggefährten Jamile über Wasser zu halten, ist sie gezwungen sich zu prostituieren. „Es kommt die Zeit, da ist es vorbei,“ sagt sie beschwörend immer wieder zu sich selbst, während die Freier ihren schmerzenden, entzündeten Körper benutzen. Doch Khady ist kein armes Opfer sondern eine selbstbewusste Frau. Sie glaubt fest daran: „Meine Würde kann mir niemand nehmen.“ Dabei entspricht sie keineswegs den Vorstellungen einer emanzipierten Frau. Sie verfügt über keinerlei Schulbildung, wurde von ihren Eltern verheiratet, ihr einziges Ziel um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen war, möglichst schnell Kinder zu bekommen. Khady Demba widerspricht dennoch in mehrfacher Hinsicht dem Klischeebild einer afrikanischen Flüchtlingsfrau. Und das macht ihre Geschichte gerade so interessant. Ich bin Khady, unverwechselbar und wertvoll, diese Botschaft sendet sie immer wieder an sich selbst, auch wenn kein anderer da ist, um sie zu hören. An sie wird sie auch noch glauben, wenn sie vom Grenzzaun in den Tod stürzt. Regisseurin Frederike Heller erzählt aus dem Roman „Drei starke Frauen“ von Marie NDiaye die Geschichte von Khady für ihre Inszenierung im Malersaal „Nach Europa“. Die Schauspielerin Bettina Stucky ist keineswegs zierlich und schwarz, wie der Text immer wieder betont, sondern eine kräftige, weiße Frau. Sie wirkt mütterlich, liebevoll und bodenständig. Mit verschmitztem Lächeln berichtet sie von Khadys schweren Leben, das sie den Rückzug in ihr Inneres antreten ließ. Sie ist sich ihres Selbst bewusst, in einem Sinne, der ganz ohne Psychologie auskommt. Sie besinnt sich auf ihre Werte und Menschenwürde, gerade als man sie ihr abspricht. Ihr Gegenüber ist Matthias Bundschuh, der in alle weiteren Rollen schlüpft. Er ist der verhörende Grenzbeamte wie der Schlepper oder ihr Wegbegleiter Jamile. Hinter der Glaswand intoniert der DJ Peter Thiessen (Sänger der Hamburger Band Kante) die elektronische Klänge des Westens, mit denen Khady nichts anfangen kann. Sie stürmt nur vorwärts, weil der Rückweg ihr verschlossen bleibt. Das Frontex-Video vom Beginn und die verwackelten Bilder der Überwachungskameras am Schluss, die die Stürze der Menschen vom Grenzzaun dokumentieren, rahmen die Inszenierung mit einem politischen Impetus, den sie nicht nötig hat. Denn der Text kann für sich sprechen. Birgit Schmalmack vom 25.11.13
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