Wenn die Götter schweigen
Vier auf einen Streich. Stephan Kimmig erzählt gleich die ganze Tragödie des Geschlechtes der Labdakiden mit „Ödipus“ von Sophokles, "Sieben gegen Theben" von Aischylos, die "Phönizierinnen" von Euripides und schließlich „Antigone“, ebenfalls von Sophokles. Innerhalb von etwas über zwei pausenlosen Stunden will er den großen Bogen spannen und den Fall aufklären: Wer ist schuld? Ödipus (Ulrich Matthes) will die Wahrheit wissen, um die Stadt Theben von der Pest zu erlösen. Er ruft den Seher Theresias. Dieser Tag erschafft und zerstört dich, warnt der ihn. Doch Ödipus lässt nicht locker: Was belastet die Stadt? Er floh einst vor dem Götterspruch, dass er seinen Vater ermorden und mit seiner Mutter das Bett teilen werde. Doch vergeblich. Die Macht der Götter war stärker. Er selbst ist es, der die Stadt verflucht. Ödipus zerstört seine Augen; sie waren für ihn zu nichts nütze. Seine Söhne treten seine Nachfolge an. Doch auf diesem Geschlecht scheint kein Segen zu liegen. Seine Söhne denken nur noch an ihre eigenen Machtansprüche, so stark, dass sie sogar gegeneinander in den Krieg ziehen und sich gegenseitig umbringen. Der Onkel Kreon (Susanne Wolff) übernimmt die Macht. War er einst stets ein gerechter und guter Ratgeber für die Könige, so scheint ihn jetzt die Macht zu verformen. Er verliert seinen Sinn für Gerechtigkeit. Sein Sohn Haimon muss ihn an seine eigenen Weisheiten, die er selbst predigte, erinnern, doch er erkennt sie nicht mehr. So muss Haimons Braut Antigone sterben, weil sie auch ihrem zweiten Bruder ein würdiges Begräbnis geben und nicht den Geiern zum Fraß überlassen wollte. Kreon trifft ein letztes Mal den Seher Theresias. Doch die Götter schweigen, seit Kreon seine eigenen Gesetze über aber die die der Götter gestellt hat. „Finde es selbst heraus!“ schleudert Theresias Kreon entgegen. Wenn die Götter schweigen, muss der Mensch selbst Verantwortung übernehmen, Das gilt auch für die Regierenden. Sie sind schließlich verpflichtet ihren Verstand, Gerechtigkeitssinn und Weitblick zum Wohle aller zu gebrauchen. Keine Götter entlasten sie von ihrer Verantwortung. Doch oft steht die eigene Imagepflege im Vordergrund. „Bin ich dann noch ein König oder ein Narr?“, fragt sich Kreon, als Theresias ihm vorschlägt Antigone von der Strafe freizusprechen. „Ich bin ein Mann!“, begründet Etoekles, als er gegen seinen Bruder in die Schlacht zieht. Regisseur Stephan Kimmig lässt den antiken Chor zum Auftakt von Kinderstimmen einspielen und sich dann verabschieden. Der Chor hat ausgedient, aber die Bürger Thebens sind anwesend: das Publikum. Eine nach hinten aufsteigende Halbpipe ist in das weiße Bühnenrund gebaut. Wer aus Wut und Aufbegehren die Wand hinaufläuft, rutscht sofort wieder hinunter. Jeder hat hier seine Auftrittsfläche vor der Bürgerschaft Thebens und Berlins, die über ihn richten soll. In der Inszenierung am Deutschen Theater haben sie alle Röcke an, egal ob Mann oder Frau. Das Geschlecht wird unwichtig angesichts des Zugangs zur Macht. „Die Macht hat dich verformt“, diagnostiziert Theresias am Schluss bei Kreon. Die Entwicklung Kreons steht trotz des Titel gebenden Ödipus im Mittelpunkt von „Ödipus Stadt“. Die grandiose Susanne Wolff, die ihn spielt, zeigt all seine Stadien minutiös. Zu Beginn ist sie der weise, gerechte, weitblickende, uneigennützige Ratgeber, dann der verzweifelte Beobachter, der vernünftige pragmatische Lösungssucher, der liebende Vater. Doch als er dann die Königskrone in der Hand hält, sie spielerisch im Schattenspiel aufprobiert, halb ironisierend halb ernst hoheitsvolle Grußgesten probt, gewinnt die Lust an der Macht allmählich Überhand über seinen scharfen Verstand. Starrsinn und Imagesorgen überdecken seine Weisheit und seine Liebe. Doch immer lässt Wolff auch die Selbstzweifel mit an klingen, wenn sie sich für ihren Herrschergestus und –sprache mit kleiner Verzögerung in Positur werfen muss. Sie beherrscht die Zartheit, die Klugheit, die kultivierte Zurückhaltung ebenso wie den brachialen Machtsprech. Den großen Bogen zu spannen, ist Kimmig zusammen mit seinem Dramaturgen John von Düffel gelungen. Natürlich sind dabei viele, sowohl sprachliche wie auch philosophische Aspekte der vier Ursprungsstücke über Bord gefallen. Die Handlungsstränge und psychologische Charakterisierungen mussten reichen. Und sie reichen für eine spannende Einführung in den Ödipus-Fall oder auch für eine Rekapitulation seiner bildungsbürgerlichen Versatzstücke. Birgit Schmalmack vom 5.4.13
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