Wahrheit beginnt mit dem Verschweigen Die preisüberschüttete und viel gerühmte Schriftstellerin Natalie Oppenheim (Corinne Harfouch) gilt als publikumsscheu und unnahbar. Ausgerechnet dem kleinen Ort gibt sie die Ehre für eine ihrer seltenen Lesungen. Ein gefundenes Fressen für die ehrgeizige Journalistin Rosanna (Katrin Wiechmann), die hartnäckig ihrem Verständnis von investigativem Journalismus nachgeht. Die Literatur interessiert sie nicht. Ihr geht es um die Parallelen zwischen den Ich-Personen in den Romanen und Natalies Leben und das Aufdecken von eventuellen Skandalen. Zwischen den Stühlen hängt der Veranstalter Roland (Alexander Khuon), der einerseits die Schriftstellerin grenzenlos bewundert und andererseits seinem lokalen Publikum etwas bieten will. Die Lesung gerät für die sensible Künstlerin zu einem Fiasko. Von Rosanna professionell kaltblütig in die Enge gedrängt, kann die überempfindliche Natalie ihre Bedrängungen nur mit einer hilflosen Mischung aus Schmollen, Schreikrämpfen und Weglaufen entziehen. Von der großen Schriftstellerin bleibt ein kleines Häufchen Elend übrig. Roland laviert sich hilflos-komisch durch seine undankbare Position als blamierter Gastgeber. Er will intellektuell erscheinen, will nicht unkritisch erscheinen , aber himmelt die Autorin an und möchte am liebsten mit der attraktiven Natalie ins Bett gehen. Als nach dem Abbruch der Lesung auch noch der eitle Bürgermeister (Sven Lehmann) des Ortes hinter die Bühne kommt und Natalie mit seinem Sprechdurchfall überfällt, hilft nur noch Alkohol. Bei reichlich Rotweinbowle lockern sich die Sitten und die Fassaden bröckeln. Die nächste Ebene der Emotionen kommt an die Oberfläche. Roland fällt über Natalie her. Die fängt an zu schluchzen. Roland setzt sich ans Klavier und singt: „Natalie“. Harfouch tanzt gewollt erotisch in ihrem engen Kleid, um sich zumindest ihrer Weiblichkeit zu vergewissern. Rosanna bleibt auch hier die distanzierte Beobachterin in den hinteren Reihen des Publikumsraumes. Regisseur Kimmig nutzt den Zuschauerraum in den Kammerspielen als Bühne. Das Publikum sitzt dafür auf der Bühne in einer halbrunden Arena und sieht dem Kampf der zwei Frauen um die Selbstentblößung zu. Bei allen Emotionsäußerungen geben die Personen doch nichts Tiefergehendes preis. Das Weinen, Wüten und Schreien wirkt genauso unecht wie das übertriebene Lächeln der Journalistin. Stephan Kimmigs Regie wirkt unentschlossen. Er nutzt den Text um die Peinlichkeiten der Entblösung auszustellen anstatt zu analysieren. Momente der Scham gibt es zuhauf. Harfouch übersetzt die Unsicherheiten der Autorin überaus virtuos in eine überzeugende Körpersprache. Hier stimmt jedes verlegene Drehen der Haare, jedes Umkrampfen des Brillenetui, jedes schreckhafte Zucken. Doch die künstlichen Fassaden eins zu eins zu übersetzen funktioniert nur bedingt. Es gibt spannendere Stücke von Yasmina Reza. Hier geht es um das Vertuschen und das Vernebeln, nicht um das Aufdecken. „Wahrheit beginnt erst mit der Sprache. Erst das Erzählte kreiert das Sein“, davon war Natalie überzeugt. Doch genau diesem verweigert sich Reza in diesem Stück. Hier liegt die Wahrheit im Verschwiegenen. Und diese Metaebene lässt Kimmig leider nicht mitspielen, sondern begnügt sich mit der Bebilderung des Sichtbaren. Birgit Schmalmack vom 20.10.12
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