Gefühlsräume
Die Choreographie „Sadeh21“ eröffnet in 90 Minuten 21 Felder (Sadeh), in denen Emotionen erprobt werden können. Sirrende, wabernde Klangkulissen füllen den leeren weißen Raum, den die Tänzer zunächst einzeln betreten, um kurze Kostproben ihrer kraftstrotzenden Talente zu geben. Schnelle ruckartige Muskelbewegungen, Verrenkungen, Tritte in die Luft, Sprünge – alle in höchster Perfektion und Präzision ausgeführt. Bei den weiblichen Tänzern kommt ein Schuss Anmut mit ins Spiel. Die Schrift auf der Raumrückwand kündigt „Sadeh2“ an. Das nächste Feld der Emotionen erkunden die Tänzer gemeinsam. Berührungen sind aber noch nicht vorgesehen. Die sind den folgenden Feldern vorbehalten. Sie weiten sich zu Gruppenszenen aus. Mal konstruktiver, helfender Art, mal behindernder, destruktiver Art. Mehr als fünf Mitglieder haben die kurzfristigen Gruppen selten. Stattdessen werden viele gleichzeitige Versuchsanordnungen nebeneinander in den Raum gestellt. Stets wechselt die Musik und erzeugt zusammen mit dem mal golden schimmernden, mal strahlend weißen, mal kalt-blauen Licht immer neue Stimmungen. Nur einmal bekommt die Musik einen groovigen Sound und verführt die Tänzerinnen zur Leichtigkeit in ihren Bewegungen. Choreograph Ohad Naharin geht es um die Auslotung von Grenzen und deren Überschreitung. In seiner Gaga-Tanztechnik schult er bewusst die Sensorik für den eigenen Körper und für den des anderen. Spiegel sind bei ihm verpönt. Das ist auch in „Sadeh21“ zu spüren. Auf der bewusst verkleinerten Bühne ist bei gleichzeitigem Auftreten aller Tänzer die Enge vorprogrammiert. Naharin spürt in diesem Umfeld den verschiedensten Ausformungen von Beziehungskonstellationen nach. Erst kurz vor Ende finden die Tänzer zu einer Gemeinsamkeit und schreiten alle zusammen in einem großen Kreis mit langsamen gleichförmigen Schritten voran. Ein meditativer Ruhepol in dem aufwühlenden, schnellen Stück. Naharin wollte dieser Choreographie ein Filmambiente geben. Folgerichtig ist die Musik wie ein Soundtrack angelegt und am Schluss läuft über die Bühnenrückwand der Abspann. Statt des traditionellen Verbeugens stürzen sich die Tänzer währenddessen filmreif von der Rückwand ins für die Zuschauer verborgene Nichts. Was zunächst wie Selbstmord wirkt, erinnert im weiteren Verlauf immer mehr an Sprünge in einen nicht sichtbaren Swimming-Pool. „Sadeh21“ kombiniert technische Perfektion mit Überraschung, Humor und künstlerischer Innovation. Den Zuschauern, die tags zuvor nicht das palästinensische „Freedom Theatre“ auf Kampnagel gesehen hatten, wird es wohl leichter gefallen sein, den Auftritt der israelischen Batsheva Dance Company unbeschwert zu genießen. Birgit Schmalmack vom 1.10.11
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