Episches Theater
Jeder epileptische Anfall hätte ihm Momente der völligen Harmonie beschert. Doch jeder dieser Augenblicke seien mit dem Risiko des Abgleitens in die Idiotie behaftet gewesen. André Kaczmarczyk steht zu Beginn ganz alleine auf der grauen Bühne und berichtet mit stockenden Worten und Hände ringend von seinem langen Schweben zwischen Licht und Wahn. Nach Jahren des Auslandaufenthaltes in Sanatorien kehrt Fürst Myschkin wieder in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück. Er begegnet seinen Mitmenschen völlig offen und ohne jede strategische Hintergedanken. Doch wie soll er sich zurechtfinden in dieser unbekannten russischen Gesellschaft, die von vielen ungeschriebenen Regeln bestimmt wird? Er trägt nicht mehr als sein kleines Bündel mit sich und Verwandte hat er nicht mehr. Als er durch eine Erbschaft plötzlich zu Geld kommt, scheinen sich neue Möglichkeiten aufzutun. Die schöne Nastassja (Yohanna Schwertfeger), in die er sich verliebt hat, ist nicht abgeneigt, seinen Antrag anzunehmen. Zumal sie selbst ein Päckchen zu tragen hat. Als Waise wurde sie von dem wohlhabenden Tozkij aufgenommen und ab der Pubertät als seine Mätresse gehalten. Hier treffen sich zwei Ausgestoßene. Doch dann umwirbt auch Rogoschin (Christian Erdmann) die schöne Frau und sie serviert Myschkin ab. Aus dem dicken Roman von Fjodor M. Dostojewskij macht Regisseur Matthias Hartmann ein Theater von epischer Breite. Zusammen mit der Dramaturgin Janine Ortiz hat er eine Bühnenfassung geschrieben, die den erzählenden Charakter beibehält. Die Schauspieler berichten über sich und die anderen stets in der dritten Person. Dialoge werden mit den jeweiligen Sprechern kurz angespielt. Die Schauspieler bebildert das Gesagte mit kleinen Illustrationen, die es entweder bestätigen oder ironisch kontrastieren. In der geschickten Bühne von Johannes Schütz kann der graue leere Raum durch das Herausziehen von Zwischenwänden blitzschnell in einen Salon, ein Vorzimmer oder Zugabteil verwandelt werden. So entwickelt sich auf der Bühne über vier Stunden lang die dramatische Geschichte eines durch und durch guten Menschen in der russischen Gesellschaft. Aus dem spielfreudigen Ensemble ragt André Kaczmarczyk als melancholischer, sympathischer und tiefgründiger Hauptdarsteller heraus. Er versteht es die Seeletiefe des "Idioten" mitzuspielen. Die tiefe Abgründigkeit und bodenlose Verzweiflung, der Dostojewskij in seinem Werk Ausdruck verleiht, interessiert Hartmann weniger. Er überführt die Romanvorlage in ein Drama, das gut konsumierbar, unterhaltend und spannend ist und beim Gastspiel des Staatsschauspiels Dresden im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals für viel Applaus sorgte. Birgit Schmalmack vom 26.101.8
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