Die Schuldfrage
Alles nur Probe! Noch darf man Fehler machen. Also keine Aufregung. Doch die Hände, Stimmen und Knie zittern. Geht es doch um die Probe zu einem Mord. Alles will wohlüberlegt und durchkalkuliert sein. Wie in einem Regal liegen die Gestalten im fast bis an die Decke gestapelten Viererhochbett, während der Tod (Bastian Reiber) die Treppe herunterkommt. Ein Mord soll durchgeführt werden. Darf ein Mensch einen anderen töten? Eine alte Pfandleiherin(Angelika Richter), die ihre Kunden aussaugt, soll um die Ecke gebracht werden. Darf ein Mensch einen anderen töten? Ein Mord, um vielen anderen helfen zu können, so könnte eine Rechtfertigungsstrategie der Tat lauten. Eine andere: Es gibt wertvolle Menschen und weniger wertvolle. Es gibt Schweine und wahre Menschen. Die Pfandleiherin gehört eindeutig zur ersten Kategorie. Wahre Menschen müssen dagegen zur Tat schreiten. Doch es bleiben die Skrupel. Ist ein Mord nicht ein widerwärtiger, ekelhafter Akt der Brutalität? Und bleibt nicht die Gefahr der Entdeckung? Diese Selbstgespräche, die Raskolnikow (Jan-Peter Kampwirth) in Dostojewskis Romans „Schuld und Sühne“ alleine in seinem Kämmerchen führt, werden im Malersaal in einem Disput zwischen allen Personen des Buches ausgetragen. Hier diskutieren seine Schwester Dunja, die Freundin Sonja (Lina Beckmann), sein Freund und der Ermittlungsrichter Porfirij (Charly Hübner) mit Raskolnikow. Um ihren Überlegungen Material zu verschaffen, springen sie immer wieder mit verteilten Rollen in einen Handlungsstrang hinein. So landen sie im Haus der Pfandleiherin, um einen weiteren Wertgegenstand zu einem Mickerpreis zu verpfänden. So ziehen sie eine fahrbare Kneipe mit einem Barmusiker mitten auf die Bühne, um sich hier hemmungslos zu besaufen und über ihr Lebensleid zu klagen. So kehren sie in Raskolnikows Kammer mit Plumpsklo zurück, um die weiteren Schritte zu überlegen. Doch zum Schluss ist Raskolnikow alleine. Er ist bewaffnet mit einem Beil zur Pfandleiherin gegangen und schlägt zu. All die theoretischen Überlegungen scheitern jämmerlich an der blutigen Tat. Von Kontrolle über die Situation keine Spur mehr. Er verschwendet Zeit und muss einen zweiten Mord begehen, um den ersten vertuschen zu können. Regisseurin Karin Henkel hat mit dem Kunstgriff der Vervielfältigung des Täters die Innengespräche des Eigenbrötlers Raskolnikows in überaus energiegeladene, spannungsreiche Handlungssituationen überführt, die auf der Theaterbühne hervorragend zur Wirkung kommen. Sie verlegt die Gedanken eines Einzelnen auf die verschiedenen Charaktere des Romans. Gleichzeitig splittet sie den 700-Seiten-Roman Dostojewskis in zwei Teile. Im Malersaal spielt sie nur „Schuld“, die „Sühne“ folgt später - wie Lina Beckmann verrät, dann auch mit verteilten Rollen – auf der großen Bühne. Dass dieses Konzept aufgeht, liegt auch an dem wunderbaren Ensemble. Jeder einzelne von ihnen schafft es, die verschiedenen Aspekte der beabsichtigten Tat zur Generierung seiner eigenen Persönlichkeit zu nutzen. Der Ängstliche, der Tatendurstige, der Zupackende, der Moralisierende, der Überlegte, der Emotionalisierte – alle Gedankenstränge werden hier zu Charakteren. Ein Schauspielerfest der neuen Schauspielhausriege. Birgit Schmalmack vom 15.3.14
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