Die Schlagseiten des Lebens
Die Kanonen schlagen hinter der Plastikvorhang ein. Leuchtmunition explodiert. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Auch auf dem scheinbar unverwüstlichen Kiez. Nicht nur bei den ehemaligen Soldaten sondern auch den Frauen, die zu lange sich alleine durchschlagen mussten. In der 24-Stunden-Kneipe "Der goldenen Handschuh" treffen die Verletzten, Geschundenen und Verirrten aufeinander. Hier ist nichts zu peinlich, nichts zu abgründig und nichts zu abseitig. Hier wird jeder so genommen, wie er zur Tür hereinkommt. Die Theke hat die Form eines riesigen Aschenbechers. Was oben rein kommt, muss unten wieder raus kommen. Daher sind die Urinale gleich mit am Rund angebracht. Hier kommt auch Fiete Honka vorbei, um das zu tanken, was ihm fehlt. Die hier am Tresen schräg in der Kurve hängen, haben alle so viele Nackenschläge durch das Leben davongetragen, dass sie den aufrechten Gang verlernt haben. So wie Fiete ist ihnen die Schlagseite des Leben ist zum Dauermodus geworden. Hier gabelt Fiete auch die Frauen auf, die er mit auf seine Bude schleppt. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Es sind Frauen, die das Leben schon lange aussortiert hat. Dass sie ein Mann auf einen Schnaps einlädt ist mehr, als sie noch erwarten hoffen. Heinz Strunk hat seinen vor Ort recherchierten Roman über den Massenmörder Honka, der seine Opfer im Goldenen Handschuh auflas, mit seinem Studio Braun Kollegen Rocko Schamoni und Jaques Palminger für die Bühne des Schauspielhauses in Szene gesetzt. Die Taten, die gleichnamigen Film von Fatih Akin breiten Raum einnehmen, sind auf der Bühne erst ganz am Ende zu erahnen. Die Inszenierung interessiert sich mehr für das Milieu, in dem die Ertrinkenden sich gegenseitig vor dem Absaufen zu retten versuchen. Vergeblich. Sie gehen zusammen unter. Die Inszenierung suhlt sich im Dreck. Dass auch das Blankeneser Geldbürgertum vor diesem Schmutz nicht gefeit ist, wird klar, wenn die ach so feine Reedergesellschaft per Container auf die Bühne gelassen wird. Alle sind gleichermaßen vorn ihren Begierden getrieben, denen sie willenlos ausgeliefert sind. Studio Braun versucht nach Kräften und mit bewährten Mitteln diesem Elend eine unterhaltsame Seite abzugewinnen. Doch das Lachen stürzt sofort in den Abgrund, über den es sich erheitern will. Doch Studio Braun wollte auf keinen Fall eine düstere Milieustudie und ein dezidiertes Täterpsychogram liefern. Sie überzeichnen ihre Figuren so stark, dass sie zu Karikaturen ihrer selbst verkommen. Selten hat man so eine hässliche Kostümierung gesehen. Die rutschenden, dicken Nylonstrümpfe, die zu engen Wurstkleider, die dicken Brillengläser, die strähnigen Haare zeigen überdeutlich, dass gute Jahre schon sehr lange zurückliegen. Da braucht es schon starke Schauspielerpersönlichkeiten wie Charly Hübner und Lina Beckmann, um ihre Figuren gegen ihre Kostümierung behaupten zu können. Wie sie es schaffen trotz ihrer äußerlichen Verballhornung sie zwischen Verletzlichkeit, Aufbegehren, Sehnsucht, Gewaltausbrüchen und Hilflosigkeit haltlos hin- und herschwanken zu lassen, ist grandios. Dieser Stoff erweist sich als so tragisch, dass er sich dem Zugriff des Comedy-Trios zur Umwandlung in eine Komödie verweigert, nicht zuletzt durch diese tapferen und sensiblen Schauspielerleistungen. Birgit Schmalmack vom 2.1.20
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