Hauptsache Frei

Hauptsache frei

Hauptsache Frei

Vier Tage geballter Theatervielfalt der freien Szene in Hamburg liegen hinter den Zuschauern. Fast alle Aufführungen erfreuten sich regen Zuspruchs, fast immer spielten die Akteure vor gut gefüllten Zuschauerreihen in den verschiedenen Spielstätten Kampnagel, Sprechwerk, Klabauter-, Monsun- und Lichthoftheater. So wurde durch die kluge Auswahl der Programmpunkte aus den unterschiedlichen Sparten Tanz, Schauspiel, Peformance und Musiktheater deutlich, wie vielfältig die freie Szene in Hamburg aufgestellt ist. Dass diese Theaterarbeit am Rande des Existenzminimums dringend unterstützenswert ist, bewies dieses Festival dieses Jahr auf eindrückliche Art und Weise.

Die Ausstellung meiner Erbstücke, Kampnagel

„Meine Hände und meine Füße habe ich von meinem Vater. Meine Hüften und meinen Po von den Frauen in meiner Familie. Meine Nase ist ziemlich schief und nicht schön, aber ich mag sie trotzdem, denn ich habe sie von meinem Großvater.“ Juliana Oliveira rollt den Wagen mit den Kästen herein und archiviert ihr Erbe. Unter die familiären Vermächtnisse mischen sich weitere. Auch von Annika, Matti, Verena, Jonas und Grete habe sie etwas vererbt bekommen. Denn im Laufe ihres Projektes "Ruins" wurde sie zur Begünstigten in 11 Testamenten von noch lebenden Personen.
So schenkte ihr Nora einen Tanz, den sie sogleich vorführt. Ein anderes Testament vermachte ihr eine Übung zur inneren Stärkung. Matti wollte ihr eine Bergtour vermachen. Doch sein Vermächtnis war leider ungültig, da er es nicht eigenhändig geschrieben hat. Aus der Bergtour wird nichts. Zum Symbol für die das zerborstene Vermächtnis wird eine Tasse, die sie mit einem Hammer zertrümmert und zwei Hälften auf eine Holzleiste schraubt. Akkuschrauber, Hammer, Standbohrmaschine, alles kommt live zum Einsatz, während sie von dem Ringen um eine gemeinsame Lösung erzählt. Eine Erinnerungsstück der Unvollkommenheit ist fertig, sie vererbt es sogleich an einen Zuschauer.
Oliviera ist eine souveränes Allroundtalent. Sie schreibt ihre eigenen Texte, tanzt, spielt und singt. Sie ist in jedem Moment glaubwürdig. Sie bewegt sich souverän auf dem schmalen Grad der Authentizität beim Spiel mit Wahrheit und Fiktion. Alles fließt ineinander und macht den Abend zu einem vielschichtigen, anregenden und interessanten Gedankenexperiment über das Teilen, Vermachen, Weitergeben und Weiterentwickeln. Ihr mit Überraschungen gespickten Umgang mit Theaterformen steht im reizvollen Kontrast zur restriktiven Form eines offiziellen Testaments mit Eröffnung durch einen Notar. Ein Abend, dessen Geschichten und Bilder dem Zuschauer noch lange im Kopf bleiben.

Hemmungslos geklaut?, Kampnagel

Die Performerin, Regisseurin und Choreografin Helen Schröder Die Neue Kompanie
Bei uns ist alles neu, bei uns ist alles von uns, bei uns ist alles von den anderen. "Die neue Kompagnie" will alles anders machen, deshalb kopiert sie hemmunglos aus dem reichen Erfahrungsschatz des Tanzes. Ob von Merce Cunningham, Anne de Keersmaker, Pina Bausch, Beyonce oder aus Flashdance - überall finden sie Interessantes, Nachahmenswertes und Anregendes für ihr Projekt "Beach Birds". Schon der Titel ist geklaut, von Cunningham. Auch die Kostüme ist von der berühmten Choreographin inspiriert. Doch dabei die fünf Tänzer/Innen um Helen Schröder nicht stehen. Frech, ohne Grenzen im Kopf und gut gelaunt mixen sie alles, was sie interessiert. Auch ein Pinguin wird dabei auftauchen. Wenn zum Schluss die Frage gestellt wird: "Was werden Sie erinnern, den Pinguin oder Cunningham?", scheint die Antwort nahe zu liegen. Doch bei einer Copy/ Paste-Vergnügen wie diesem wird jeder sein Lieblingsbild im Kopf haben.

Voll auf Liebe programmiert, Monsun

Eine Zaubermaschine, die alle Wünsche erfühlt und erfüllt? Das wäre doch endlich einmal eine technische Entwicklung, die alle ersehnen, denkt sich Tom (Nils Malten). Er hat den Djin entwickelt, eine Drohne, die seinem Besitzer treu ergeben ist. Doch Djin kann mehr als nur das perfekte Frühstück liefern, die Akten ins Büro bringen, er kann auch Fragen beantworten, ein Gespräch führen und vielleicht sogar lieben? Doch unterliegt Tom, wenn er ein romantisches Picknick für den Djin und sich arrangiert, nicht nur einer Täuschung und hat seine Drohne lediglich auf Liebe programmiert?
Was passiert, wenn der Mensch sein Gegenüber ganz nach Wunsch gestalten kann, versucht das Projekt "Djin, Lovestory 2.0." von Anne&ich (Anne Rietschel und Anton Krause) herauszufinden. Das fliegende Ensemblemitglied wird vom Operator geführt, während Tom alle weiteren Live- und Filmrollen spielt. Etliche interessante Fragen reißt der Abend an. In die Umsetzung fließt viel Selbstironie mit ein, manchmal so viel, dass sie ihr Sujet fast der Lächerlichkeit preis gibt.


Ich bin nicht Vergangenheit, ich bin retro!, Klabauter

"Willkommen bei der Zeitraffer-Bank!", so begrüßt die Stimme den Anrufer. Die Zuschauer im Klabauter-Theater sehen, dass sie live von der gelangweilten Sprecherin am Stehpult gesprochen wird, die allerdings nur die nächste Pause im Visier hat. Der Mitarbeiter rechts von ihr ist mit dem Lochen von Papieren beschäftigt. Der Mitarbeiter links von ihr mit dem Einheften derselben. Eine weitere Kollegin holt sie dann wieder heraus, um sie auf die Bühne zu bringen, wo sie von einem weiteren dienstbaren Geist aufgehängt werden. Es handelt sich um Porträts von Zuschauern, die von einer Zeichnerin liebevoll mit Lippenstift auf eine Transparentfolie gezeichnet worden sind. So werden alle Zuschauer nicht zum Teil des Bühnenbildes sondern zu Mitgliedern in der Zeitraffer-Bank, deren Unterlagen in den zahlreichen Aktenordern in den schiefen Regalen auf der Bühne gesammelt werden.
Die Regisseure Kai Fischer und Christopher Weiß haben mit dem Klabauter-Ensemble einen bildereichen, informativen und unterhaltsamen Abend über das Thema Zeit erschaffen. Wie sie Wissenswertes über die Zeit im Laufe der Geschichte von dem Textgenie unter den Ensemble-Mitgliedern darbieten lassen, wie sie zwei Schauspielerinnen über ihre Kindheitserinnerungen sinnieren lassen, wie sie einen Mitarbeiter unter Aktenordnern begraben, wie sie einem Totgesagten von dem Publikum Lebenszeit ersteigern - all das macht ihr Stück mit dem spielfreudigen, sympathischen Ensemble zu einem sehenswerten Erlebnis.


Zeitraffer, Klabauter Theater Foto: Fabian Hammerl

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