Familienaufstellung
Rosie wollte ausbrechen aus ihrem kuschelig warmen Nest ihrer Familie. Sie wollte endlich erwachsen werden. Dazu packte sie ihren Rucksack und flog auf die andere Seite der Erdhalbkugel, nach Europa. Doch nach einigen Monaten des Herumstreifens stellt sie fest, dass sie auseinander zu brechen droht. Und dass es wenig Dinge gibt, die sie sicher weiß. Doch eines gehört ganz sicher dazu: Sie muss zurück zu ihrer Familie nach Australien. Zu dieser herrlich chaotischen Ansammlung von Menschen, die sie zu kennen glaubt. Dass nicht einmal deren Geschichten, Gefühle und Gedanken zu den Dingen gehört, die Rosie wissen kann, macht das Stück von Andrew Bovell klar. Sein Stück ergründet die geheimen Sehnsüchte, Erwartungen, Zumutungen und Begierden, die sich unter der Oberfläche einer vermeintlichen Vorzeigefamilie verstecken. Das Arbeiter-Ehepaar hat vier Kinder groß gezogen. Vieles hat es dieser Aufgabe untergeordnet. Bob hat den Frust über seine frühzeitige Pensionierung als Automechaniker heruntergeschluckt, Fran hat sich eine wohlmöglich aufregendere Beziehung versagt. Nun sind alle Kinder erfolgreich erwachsen und Bob und Fran hoffen auf einen Lebensabschnitt, in dem sie die Früchte mit einer Schar netter Enkelkinder stressfreier ernten können. Doch die Kinder sind nicht einfach zu einer besseren Ausgabe ihrer selbst geworden, sondern schlagen völlig andere Lebenswege ein. Pip hat sich von ihrem Mann und den zwei Kindern getrennt und ist zu einem Liebhaber nach Kanada gezogen. Der ehrgeizige Ben hat illegal Geld abgezweigt, um dem Milieu seiner Arbeiterfamilie zu entkommen. Sohn Mark fühlt sich im falschen Körper und will in Sydney eine Geschlechtumwandlung angehen. Und die Nachzüglerin Rosie hat sich in den Kopf gesetzt in Brisbane "Kreatives Schreiben" zu studieren. Kathrin Kegler hat ein sprechendes Bühnenbild für die Inszenierung von Regisseurin Adelheid Müther gefunden: Die schützende Hülle des Familienrunds ist wie die Schalen eines Eis auseinander gebrochen. Die weißen, runden Mauerteile weisen Risse auf. Die Erinnerungen an den Kindheitsgarten sind nebulös hinter ihnen zu erahnen. Maria Hartmann spielt die Mutter als eine omnipräsente Familienmanagerin, die alles weiß und die für alles eine Lösung hat. Christoph Tomanek ist ihr leicht trotteliger Gatte, der ihre Strenge mit umso größerer Liebe und Langmut unterfüttert. Ruth Marie Kröger zeigt Rosie als behütetes Nesthäkchen, das lieber im Hotel Mama den anderen hilft als die eigenen Herausforderungen anzugehen. Nina Petri ist die emanzipierte Frau, die keinesfalls in die Fußstapfen ihrer sich aufopfernden Mutter treten sondern eigene berufliche Ziel mit einem erfüllten Liebesleben für sich in Anspruch nehmen will. Maximilian von Mühlen zeigt einen jungen Mann, der so gerne das kleinbürgerliche Leben seiner Familie hinter sich lassen möchte, dass er dafür alle Werte des Anstands hinter sich lässt. Rune Jürgensen macht die Zerrissenheit des Sohnes, der so gerne eine Tochter wäre, glaubhaft. Einerseits will er seine Eltern nicht enttäuschen, aber andererseits muss er endlich zu sich selbst finden. Bei allen diesen einzelnen Entwicklungsgeschichten, die in dieser Familie zusammentreffen, geht es um die das Ausbalancieren zwischen Individualität und Gemeinschaft. Wie weit ist Zusammenhalt möglich obwohl die Bedürfnisse auseinanderdriften? Wo behindern die Familienhüllen, wo geben sie Halt? Was hält eine Familie im Innersten zusammen, was kann sie sprengen? Diesen spannenden Fragen geht dieses Stück nach. Der Applaus des Premierenpublikums war mehr als herzlich. Es zeigte sich begeistert von dem lebensklugen Stück, der beeindruckenden Ensembleleistung und der sensiblen Regie, die zahlreiche Momente mit hohem Wiedererkennungswert schuf. Birgit Schmalmack vom 17.1.20
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