Lea Marlen Balzer hat sich für ihre Inszenierung im Gegensatz zu ihren Mitstreiter:innen bei den diesjährigen Kiezstürmern ein fertiges Stück vorgenommen: "Zwei Herren aus Real Madrid" von Leo Meier, oder vielmehr "nach Leo Meier". Denn bei ihr stehen statt der zwei männlichen Fußballspieler zwei Frauen auf der Bühne, die zwei Männer spielen. Die dritte im Bunde (Carina Sönksen, Franziska Schulze, Christin Wieder ) spielt alle weiteren Rollen, mal die Teamkollegen, die Presseleute, die Mutter, den Vater oder andere Verwandte. Doch während die Liebesgeschichte, die hier in einem italienischen Fußballverein angesiedelt ist, schon für Stoff genug sorgen könnte, packt Balzer hier bei den Kiezstürmern noch jede Menge Subbotschaften mit hinein. Ständig schielen die drei auf die Übertitel um zu erfahren, was sie als nächstes machen müssen. Die Spielerinnen sind größtenteils zu Karikaturen verfremdet. Mit ihren barocken Halskrausen zu Sportdress-Versatzstücken versuchen sie sich zwischen höfischem Zeremoniell und Machogehabe zu positionieren. Das leben die drei Darstellerinnen unterschiedlich aus. Und damit auch das Witzpotenzial, das mit etlichen Insidersprüchen angereichert wurde und die wissenden Teile im jugendlichen Publikum mehr erheiterte als anderen, die nicht eingeweiht waren. So überschüttete das Team um Balzer den ernsten Inhalt um die immer noch sehr traditionellen Ansichten bezüglich Homosexualität in Fußballvereinen mit so viel ironischen und gewollt witzigen Einfällen, dass kaum noch Aufmerksamkeit für das Thema des Textes übrig blieb. Das ging im allseitigen Amüsement fast unter. Einzig die Schlussszene erlaubte sich ein eindrückliches, versonnenes, leises Bild: Da steht die eine des einstigen Liebespaares ganz alleine im Wind auf dem Flugplatz und blickt ganz verloren in die Ferne. Der zweite Teil der Lovers hat sich von Paris kaufen lassen. Karriere ist eben doch wichtiger als die Liebe. "Voll schön, ich hatte Tränen in den Augen", so eine der Reaktionen einer Zuschauerin beim Hinausgehen.
Der junge Mann an der Bühnenrampe interpretiert einen Song ganz zart und mit einem leichtem Lächeln um die Mundwinkel. Er will niemanden verschrecken. Nein, im Gegenteil, er will verbinden. Mit einer Berührung an den Fingerspitzen, die sich von Zuschauerin zu Zuschauer durch den gesamten Zuschauerraum zieht, will er zu einem Schwur verpflichten: Wir sollen uns und ihm versprechen: Kein mitleidiges Kopfschütteln, kein abwehrendes Arme-Verschränken. Erst dann fängt er an zu erzählen. Von seinem Schmerz über den Tod seines Vaters. Er fühlt sich ver-rückt. Seine Welt ist aus den Fugen geraten durch den Verlust dieses Menschen, der für ihn als Orientierungspunkt so wichtig war. Denn dieser Mann ist Hamlet. Doch in " you with the sad eyes" ist er keiner, der in seinem Weltschmerz versinkt, der sich von dem Geist seines Vaters zur Rache antreiben lässt. Sondern einer, der erst einmal lernen muss zu trauern. Der seinen Verlust anerkennen, sich seinem Ärger, seiner Angst, seiner Verletzlichkeit, seiner Ohnmacht stellen muss. Der seine Gefühle zulassen und lernen muss mit ihnen weiter zu leben. Bei diesem Prozess begleitet das Publikum diesen Hamlet. Wie er in seiner silbernen Reflektionssanzug und seinen metallnen Pulsadernschonern auf der Bühne seine Kreise zieht, um seine Tatenlosigkeit abzureagieren, wie er sich unter der Folie versteckt, um mit seinem Vater in den versäumten Dialog zu treten, wie er seine eigene Position in dieser neu zu ordnenden Welt zu finden versucht. Dieser Monolog wird von dem überaus sympathischen und nahbaren, so gar nicht entrückten Darsteller des Hamlets Max Kurth getragen. Ein sehr eindrucksvolles Stück ist dem Jung-Regisseur Ilario Raschèr gelungen, das konsequent und fokussiert seinen Ansatz der Verlusterkundung mit wenigen, dezidiert eingesetzten Mitteln verfolgte und umsetzte.
Wenn ein Stück nur aus Schlüssen bestehen würde, wäre das nicht die ultimative Dramatik? Sozusagen nur die gesammelten Extrakte des jeweiligen Stückes? Denn kulminiert im Ende nicht die ganze Entwicklung der Personen zuvor? Doch dieses Konzept ist schwierig, das merken die beiden Schauspieler:innen hier auf der Bühne in "schluss. aus" schnell. Denn was sagt ein Ende schon aus, ohne die vorher gemachten Erfahrungen? Also werden zu den rekapitulierten zahlreichen Enden doch ein bisschen Kontext jeweils fällig. So gibt es etwas Vorwissen zu Gretchens Tod. So gibt es ein paar weitere mögliche Schlüsse zu Romeo und Julia. So werden auch die Erwartungen an den Prinzen, der die Rettung bringen und zu einem Happy End führen soll, infrage gestellt. Das Bühnenbild zwischen der Spielplatzrutsche und dem Blumenbeet macht es deutlich: Hier geht es um das spielerische Erkunden von möglichen Schlüssen. Unter der Regie von Antonie Zschoch machen die beiden Schauspieler:innen Sofie Junker und Severin Mauchle das mit viel Sinn für Situationskomik. Sie nehmen ihren Schau-Spiel-Auftrag sehr ernst und dennoch auf die Schippe. Doch erst als sie zum Rauchen von der Bühne gehen, gehen ihre Überlegungen in die Tiefe und über das bloße Spielen damit hinaus. Erst als das Stück also zum Hörstück und damit das Spielen ausgeklammert wird, gewinnt es an Tiefe.
"Bis gleich, kein Problem", das ist gnadenlos untertrieben. Diese drei (Justin Otto, Marc Benner, Lucas Zach ) da auf der Bühne haben allerlei Probleme. Sind sie doch angetreten die Ideale einer neuen Zeit, die keine Besitzansprüche mehr stellt, zu vertreten. Doch schon die entstehende Dreierkonstellation, die sich durch den Neuankömmling Matthew ergibt, überfordert die bisherige Zweier-WG. Selbst eine harmlose Frage, ob der andere Hunger hätte, artet zu einer Zwangsernähungsorgie aus, bei der sich alle gegenseitig die Nahrungsmittel, die in der ganzen Wohnung verstreut sind, in den Mund bzw. ins Gesicht schmieren und stopfen. So ist schnell klar, das wird nicht lange gut gehen. Als zwei von ihnen gemeinsam in die Matratzenberge verschwinden und der dritte alleine draußen vor bleibt, ist dieses Kapitel so schnell abgeschlossen, wie es begonnen hat. Da hilft auch das rabiate Zähneputzen nicht mehr, mit dem alle Gerüche übertüncht werden sollen. Während einer von ihnen die wohlfeilen theoretischen Abhandlungen zu neuen Gesellschaftsformen mit einem Zettelberg und Mikro von der Seite vorträgt, verwüsten die beiden anderen konsequent die WG-Wohnung. Vielleicht wäre die ideale Größe einer neuen Gemeinschaftsform doch einer die Zweierkonstellation, vermutet einer von ihnen. Doch genau das war ja das traditionelle Modell, das es zu überwinden galt, man erinnert sich. Und selbst die zerbricht am Ende. Die Frage, die dann bleibt und an die Zuschauer:innen weitergereicht wird, ist nur: Wer muss zuerst gehen? Das Stück von Moritz Rux ist überbordend von Text-Konvoluten, die mit heiligem Ernst und traurigen Mienen vorgetragen werden. Hier geht es um Existenzfragen, persönlichen und gesellschaftlichen, so viel wird schnell klar. Dennoch ebenso schnell: Das Scheitern ist vorprogrammiert, mögen alle Beteiligten auch noch so gut vorgebildet, redegewandt und engagiert sein. Das Menschsein kommt ihnen bei ihren revolutionären Entwürfen in die Quere. Rux geht mit seinem Team in die Vollen. Da wird mit der Expressivität eventuell zum Teil etwas übers Ziel hinausgeworfen, aber das ist den hehren Idealen der jungen Männer auf der Bühne wohl nur angemessen. Doch die Theoriegebilde, die diesem Tun auf der Bühne unterlegt werden, sind alle von vorgestern. Was aus den Achtundsechzigern geworden ist, ist lange klar. Also leider nichts Neues in Sicht und auch das Alte schon längst gescheitert. Wir alle sind wie Theater getrieben werden, stehen am Schluss alle ganz alleine da. Gescheitert und einsam. Ein eindrucksvolles, nachdrückliches, überbordendes Stück, das forderte und beeindruckte. Birgit Schmalmack vom 15.5.24
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